Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 748

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Leutnant Schmidt

[1]

Der blutige Streich hat auf sich nicht warten lassen! Der Absolutismus ist gezwungen, seine eigenen Panzerschiffe in Brand zu schießen, seine eigenen Kasernen zu bombardieren. Die Braven von Sewastopol sind in einer furchtbaren Schlacht niedergeworfen worden – Mannschaften, die nach wiederholten amtlichen Meldungen der zaristischen Regierungskanaille absolute Ruhe und Ordnung aufrechterhielten, die nicht die geringste Ausschreitung begangen haben! Diesmal hatte die Schurkenbande nicht einmal Zeit und Möglichkeit, wie in Kronstadt, erst durch ihre Stützen, durch Taschendiebe, Zuhälter und Spitzel eine Orgie zu veranstalten, um sie auf die „meuternden“ Matrosen abzuwälzen. Nicht ein Stäubchen läßt sich auf dem blanken Schilde der Sewastopoler revolutionären Diktatur ausfindig machen! In hellem Sonnenlicht wehte da das Banner der politischen revolutionären Erhebung gegen das Nagaika [Knüttel]-Regime. Und für dieses Verbrechen allein, in nacktem offenem Zweikampf um die eigene verbrecherische Existenz hat die feige Bande der Ausreißer von Liaujang, Mukden und Port Arthur[2] die eigene Mannschaft, das eigene Volk in Sewastopol in einem Blutmeer erstickt!

Die Sewastopoler Erhebung ist wie die Potjomkinsche[3], wie die Kronstädter[4] gefallen. Aber bei ihrem Fall macht sie die Pfeiler des Absolutismus erzittern, wie Simson die Säulen seines Gefängnisses. Vielleicht noch ein paar einzelne niedergeworfene Aufstände, aber schließlich stürzt das ganze Gebäude des alten zaristischen Rußlands den stupiden Kanaillen auf die verwirkten Köpfe zusammen.

Auf dem Fond der grandiosen Rebellion von Sewastopol erhebt sich in revolutionärer Glorie die Gestalt eines Mannes, der gestern noch in der Öffentlichkeit kaum bekannt, heute als einer jener Helden erscheint, die eben nur in Revolutionszeiten von der Größe des Augenblicks in ihrer eigenen Größe sich zeigen und an die Spitze großer Dinge gestellt werden.

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, er gehört zu den Leitartikeln der Chefredakteurin des „Vorwärts“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 380 ausgewiesen.

[2] Schlachtplätze des Russisch-Japanischen Krieges von 1904 bis 1905. – Im Russisch-Japanischen Krieg, den Japan im Januar 1904 begonnen hatte und der im September 1905 mit einer schweren Niederlage der russischen Truppen endete, ging es um Einflußsphären und Vorherrschaft im Fernen Osten. Die Niederlage schwächte den Zarismus und verschärfte die revolutionäre Krise in Rußland.

[3] Der Matrosenaufstand auf dem Panzerkreuzer „Potjomkin“ am 27. Juni 1905 war die erste revolutionäre Massenaktion in der zaristischen Armee und Flotte.

[4] Siehe Rosa Luxemburg: Die Wahrheit über Kronstadt. In: GW, Bd. 6, S. 691 ff.