Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 266

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Über die Aufgaben des Parteitages. Rede am 29. August 1899 in der Parteiversammlung des 12. und 13. sächsischen Reichstagswahlkreises im Pantheon in Leipzig

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

Werte Anwesende! Wohl niemand ist im Zweifel, daß der 6. und 7. Punkt der für den Parteitag in Hannover aufgestellten Tagesordnung, die Verhandlungen über die von Bernstein empfohlene Taktik[2] und über die von Schippel gegen unsere Stellung zum Militarismus gerichteten Angriffe,[3] den wichtigsten Teil des Parteitages bilden werden. Beide Punkte, die beide dem Opportunismus in der Partei ihren Ursprung verdanken, behandelt die Rednerin im Zusammenhang.

Die materialistische Geschichtsauffassung, die Lehre vom Klassenkampf und die praktischen Aufgaben der sozialdemokratischen Partei sind von Bernstein einer Kritik unterworfen worden. In der heutigen Parteiversammlung will Rednerin sich aber nur mit dem Teil der Bernsteinschen Ausführungen beschäftigen, der sich auf die praktischen Aufgaben der Sozialdemokratie bezieht. Da erklärt nun Bernstein: Eure ganze bisherige Tätigkeit beruht auf der Annahme einer zunehmenden Verelendung, es bedarf aber in Wirklichkeit gar nicht des Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems, es kann vielmehr eine Verbesserung der Lage der Arbeiter schon heute erreicht werden. Wo aber hat denn je ein Sozialdemokrat gesagt, wo steht denn in unseren Schriften, daß die Sozialdemokratie ihre Hoffnung zur Erreichung ihrer Ziele auf immer größer werdende Verelendung der Massen setzt? Im Gegenteil ist es seit jeher Meinung der Partei, daß dort, wo keine genügende Ernährung geboten, wo nicht die Möglichkeit der Weiterbildung des arbeitenden Volkes vorhanden ist, der Boden nicht für die Sozialdemokratie, sondern bloß für den Anarchismus ist. Wem verdanken wir denn den Arbeiterschutz, wem verdanken wir denn das ganze Bißchen

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[1] Zu der Versammlung erschienen 1200 Personen.

[2] Eduard Bernstein war seit Herbst 1896 mit dem Bestreben aufgetreten, die Anschauungen der deutschen Sozialdemokratie zu revidieren. Das Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ mit seinen neuen Ansichten war im Januar 1899 erschienen. Der Einfluß der Sozialdemokratie könnte größer sein, folgerte er auf S. 165, wenn sie „den Mut fände, sich von einer Phraseologie zu emanzipieren, die tatsächlich überlebt ist, und das scheinen zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei“.

[3] Unter dem Pseudonym Isegrimm hatte Max Schippel im November 1898 in den Sozialistischen Monatsheften dafür plädiert, die sozialdemokratische Forderung, das System der stehenden Heere durch das der Miliz abzulösen, als unnötig fallen zu lassen.