Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 267

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Sozialreform? Der Sozialdemokratie, die immer auf die Hebung der Lage der Arbeiter hingewirkt hat. Das war immer so und Bernstein sagt die Unwahrheit, wenn er davon spricht, wir hätten uns in dieser Beziehung gemausert. Was von der Sozialdemokratie als Grundlage ihrer Tätigkeit betrachtet worden ist, ist nicht das absolute Elend des Volkes, sondern das ist der zunehmende Abstand zwischen der Lebenslage der besitzenden Klassen und der der Ausgebeuteten, zwischen dem Leben des Volkes und dem wirklichen Kulturleben, zwischen dem, was der Arbeiter vom gesellschaftlichen Reichtum bekommt, und der Produktivität seiner Arbeit. Während unter dem kapitalistischen System für die Arbeiter nur geringe Verbesserungen zu erreichen sind, verbessert sich hundertfach stärker die Lebenslage der Bourgeoisie. Die Lage der Arbeiter kann und muß sich heben, aber nichtsdestoweniger wird der Unterschied zwischen den beiden Klassen der Kapitalisten und der Arbeiter immer größer. Und die Sozialdemokratie stützt sich nicht auf die Unzufriedenheit des hungrigen Tiermenschen, sondern auf die Unzufriedenheit des vorwärtsstrebenden Kulturmenschen.

Dem ganzen Streite mit Bernstein liegen zwei grundverschiedene Auffassungen zu Grunde. Wenn Bernstein uns darauf hinweist, daß die Arbeiter ihre Lage durch den alltäglichen wirtschaftlichen und politischen Kampf heben können, so darf er uns aber doch nicht glauben machen wollen, daß sie dabei alles erreichen könnten. Wenn Bernstein für seinen Zweck darauf verweist, daß Lassalles ehernes Lohngesetz aufgehoben, widerlegt ist, so ist das gegenstandslos. Schon Marx hat nachgewiesen, daß Lassalles ehernes Lohngesetz ein ökonomischer Irrtum oder vielmehr veraltet ist. Aber Bernstein irrt ebenfalls, wenn er annimmt, daß seit der Widerlegung des Lassalleschen Lohngesetzes für die Arbeiter die Bäume in den Himmel wüchsen. Solange die Arbeitskraft eine Ware ist, deren Preis sich wie der jeder anderen Ware bestimmt, solange das Lohnsystem herrscht, solange müssen auch die Arbeiter darben. Bernstein verweist hiergegen auf den Nutzen der Gewerkschaften. Gewiß bilden diese eine gute Schule für die Arbeiter, sie sind ein unentbehrliches Kampfmittel gegen Raubzüge des Kapitalismus, gegen die schlimmste Ausbeutung. Aber die Gewerkschaften können nicht das kapitalistische System beseitigen. Die englischen Gewerkschaften alten Stils, auf die man uns so oft verweist, waren nie Organisationen der breiten Masse, sie waren wenn auch noch so ausgedehnte Vereinigungen der Elitearbeiter, der Arbeiteraristokratie. Aber es kommt auf die Lage der Masse, namentlich der ungelernten Arbeiter an, und die neuerdings für diese gebildeten Organisationen haben auch in England andere Wege, andere Methoden einschlagen müssen, ohne daß sie solche Erfolge zu erreichen imstande wären wie die Organisationen der gelernten Arbeiter. Gerade in England ist bewiesen worden, daß die Gewerkschaften die kapitalistische Ausbeutung nicht zu beseitigen vermögen.

Und sind dazu etwa die Genossenschaften, die Produktiv- und Konsumgenossenschaften berufen? Gewiß, auch ihr Nutzen ist mannigfacher Art. Aber können wir hoffen, daß die Genossenschaften die kapitalistische Gesellschaft in die soziali

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