Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 398

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Die Kammerwahlen in Frankreich

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Die Kammerwahlen in Frankreich sind auch heute noch nicht völlig zu übersehen. Zwar ist das Resultat der Wahlen festgestellt und die offiziellen Wahlstatistiken konstatieren mit Genugtuung, daß der Ansturm der Nationalisten auf die Regierung abgeschlagen ist. So ist nach der offiziösen Agence Havas das Gesamtergebnis der Wahlen zur Deputiertenkammer das folgende: Gewählt sind: 47 Konservative, 42 Nationalisten, 81 antiministerielle Republikaner, 81 ministerielle Republikaner, 88 Radikale, 49 sozialistische Radikale, 24 Sozialisten. Die Gewinne und Verluste der Parteien stellen sich wie folgt: Republikaner 13 Mandate gewonnen, 13 verloren; Radikale zwölf bzw. 13, Sozialisten zwei bzw. vier, sozialistische Radikale fünf bzw. fünf, antiministerielle Republikaner 19 bzw. 23, Nationalisten 14 bzw. 7, Konservative drei bzw. drei. Nach der Statistik des Ministeriums des Innern sind 248 Ministerielle und 163 Antiministerielle gewählt.

Die Unklarheit der Situation wird insbesondere durch die Tatsache beleuchtet, daß beide Teile sich den Sieg zuschreiben. Die klerikalen und nationalistischen Blätter sprechen von einer in die Augen springenden Niederlage der Regierung, welche besonders charakterisiert werde durch den Mißerfolg Millerands und Brissons; diese Blätter meinen, daß die Majorität in der Kammer eine Abänderung im Vergleich zu der bisherigen erfahren werde. Aber auch die Organe der Regierung affektieren große Genugtuung über ihren „Sieg“, den sie in der Abwehr des Angriffs der „Feinde der Republik“ finden wollen.

Ein abschließendes Urteil über die Lage wird sich erst nach den Stichwahlen gewinnen lassen.

Von den Sozialisten sind insgesamt 22 gewählt; davon 15 Jaurèsisten und sieben Blanquisten. Etwa 20 günstige sozialistische Stichwahlen stehen in Aussicht. Außer Jaurès ist Briand und Gérault-Richard gewählt. Guesdisten und Blanquisten haben zusammen 825000 Stimmen auf sich vereinigt.

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 97 vom 29. April 1902.

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[1] Der Artikel erschien anonym in der Rubrik „Politische Übersicht“. Rosa Luxemburg ist vermutlich die Autorin. 1898 hatte sie für die Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden) über Frankreich ähnliche Notizen geschrieben, siehe GW, Bd. 6, ab S. 119. Siehe auch: Die Wahlergebnisse in Frankreich. In: GW, Bd. 1, 2. Halbbd., S. 224 ff. Zur ihrer Rolle in der Leipziger Volkszeitung hatte sie Clara Zetkin am 16. März 1902 berichtet, sie werde ab 1. April 1902 zusammen mit Franz Mehring die politische Leitung der LVZ übernehmen und alles so ordnen, „um Weiteres von hier aus durch Artikel und Übersichten zu tun“. [Redaktionelle Hervorhebung.] Der belgische Wahlrechtskampf bildete außerdem 1902 einen Schwerpunkt ihrer Beobachtungen und Analysen. Siehe: „Der dritte Akt“, „Steuerlos“, „Die Ursache der Niederlage, „Das belgische Experiment“ und „Zum dritten Male das belgische Experiment“. In: GW, Bd. 1, 2. Halbbd., ab S. 195..