Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 832

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Die Revolution in Rußland

[1]

Die Regierung des Durnowo-Kurses[2] fährt fort, zu provozieren. Verhaftungen namhafter Führer der Arbeiterbewegung werden fortgesetzt. Der sterbende Absolutismus spielt va banque und will gewaltsam die Entscheidungsschlacht herbeiführen, bevor die Arbeiterschaft sich zum Siege stark genug fühlt. Trotz all dieser Provokationen bleibt die Haltung der leitenden Organisationen fest und ruhig. Die von den bürgerlichen Blättern kolportierten Gerüchte über einen bereits mißlungenen Versuch des Generalstreiks sind alle erlogen, genau so wie die Gerüchte über die von den Arbeitern in Riga verübten Greuel oder über die „rote Garde“ in Finnland. Die Leser werden unten aus eigenen Zuschriften der betreffenden Genossen ersehen, daß das Chaos und die Anarchie durch offiziöse Telegramme und bürgerliche Korrespondenten aus freien Stücken dem Publikum vorgemacht werden. Es handelt sich vielmehr überall um ganz zielbewußte politische und ökonomische Bestrebungen, die der Absolutismus allerdings in einem allgemeinen Chaos der Metzelei und der Plünderungen ersticken möchte.

Alexandrowo, 20. Dezember. (Von einem Privatkorrespondenten.) Aus Warschau wird gemeldet: Der Vorsitzende des Warschauer Eisenbahnerverbandes, Moracewicz, ist heute verhaftet worden; der Verband hat deshalb beschlossen, daß am Freitag ein Ausstand der Beamten der Weichselbahnen beginnen soll.

Kiew, 20. Dezember. Neuerdings wurden mehrere Mitglieder des Kongresses der südrussischen Revolutionäre verhaftet. Alle Versammlungen, mit Ausnahme des christlich-sozialen Verbandes, wurden von der Polizei verboten. Seitens der „Schwarzen Hundert“[3] wird zu neuen Judenmassakern aufgefordert. Aus verschiedenen Ortschaften Bessarabiens verlautet, daß die Polizei selbst zur Verfolgung der Juden auffordert. In Odessa sind neuerdings Unruhen ausgebrochen.

Organisation im Heere

Petersburg, 19. Dezember. Die heute erschienene neue sozialdemokratische Arbeiterzeitung „Sewerny Golos“ [Stimme des Nordens] veröffentlicht einen Aufruf des Zen-

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 377 verzeichnet.

[2] Pjotr Durnowo war vom 30. Oktober 1905 bis 22. April 1906 Innenminister.

[3] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.