Blutiger Mai
[1]Wiederum hat in Warschau die zaristische Alleinherrschaft des Volksmordes blutige Greuel vollbracht. Hekatomben von Menschenleben wurden hingeschlachtet durch eine zur Blutgier gestachelte Soldateska, Hekatomben von Menschen, die keinerlei Gewalttätigkeit verübt, die lediglich sich in den Straßen bewegten, um für ihre freiheitlichen Ideale zu demonstrieren. Frauen und Kinder sind gemordet worden, waffenlose Arbeiter, die vor dem unerwarteten sinnlosen Salvenfeuer der Soldaten flüchteten, brachen zusammen, den tödlichen Schuß im Rücken: Das sind die neuen Heldentaten der zaristischen Schergen.
Wohl allzu sehr mögen die Arbeiter in Warschau vertraut haben, daß unmöglich die Schlächterei des Petersburger Blutsonntages vom 22. Januar wiederholt versucht werden könne.[2] Friedlich zogen sie durch die Straßen, die Reiterei ließ die Arbeiter zunächst ruhig vorbeiziehen, dann plötzlich sahen sich die Wehrlosen von vorn und hinten eingekeilt, Kosakensäbel und Gewehrsalven richteten das furchtbare Blutbad an. Weit über hundert Menschen sind getötet, und noch unbekannt ist die große Zahl Verwundeter. Selbst die offiziellen Berichte aus Warschau bekunden die feige Brutalität der Mordbuben; es wird gemeldet, daß Soldaten bis in die Höfe drangen und Personen, die sich dort zu verbergen suchten, mißhandelten und totschlugen, aber nur in einem Falle wird berichtet, daß Polizisten durch eine in der Abwehr geworfene Bombe getötet sind.
Entsetzungsvolle Szenen trugen sich zu. Vor dem Polizeibezirksamte der Krakowskie Przedmies´cie neben der Kreuzkirche versammelte sich am Dienstag eine große Volksmenge, die Angehörigen wollten die Leichen ihrer getöteten Väter, Söhne und Kinder rekognoszieren, die aus der ganzen Stadt dorthin in die Leichenkammer gebracht worden sind. Infanteristen und Polizeimannschaften verweigerten aber jedem den Zutritt.
Die Erregung unter der Arbeiterschaft ist ungeheuer. In vielen Fabriken ruht die Arbeit vollständig. Am Dienstagmorgen erschienen nur zwei Zeitungen, auch am Mittwoch
[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Aus ihrem Brief vom 2. Mai 1905 geht hervor, daß Rosa Luxemburg wahrscheinlich die Verfasserin ist, siehe GB, Bd. 2, S. 82.
[2] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.