Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 249

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Der vierte Parteitag der PPS im preußischen Annexionsgebiet am 25. und 26. Dezember 1898 in Berlin

[1]

Der vierte Parteitag der polnischen Sozialdemokraten hat an den beiden Feiertagen in Berlin getagt: in Beuthen, dem ursprünglichen Kongreßorte, war bekanntlich der Saal abgetrieben worden.

Es waren 25 Delegierte, u. a. aus Breslau, Hamburg, Gnesen, Posen, Halle, Leipzig, Dresden, Laurahütte, Kattowitz u. Zabrze erschienen.

Aus dem Geschäftsbericht sei mitgeteilt, daß im letzten Jahre wegen politischer und Pressevergehen 39 Monate 14 Tage Gefängnis und 1121,10 M Geldstrafe verhängt worden sind. Die Bedeutung der letzten oberschlesischen Wahlen wurde hervorgehoben.[2] Ein Delegierter empfahl engere Fühlung mit der deutschen Sozialdemokratie.

Am zweiten Tage wurden mehrere Resolutionen gefaßt. Zuerst diese:

1. Der Kongreß protestiert energisch gegen die polizeilichen Beschränkungen, denen die polnischen Arbeiter ausgesetzt sind, insbesondere gegen das unberechtigte Verbot des Gebrauchs der polnischen Sprache in Vereinen und Versammlungen, das trotz der entgegenstehenden Entscheidungen der höchsten Gerichte in Preußen, wie in anderen deutschen Bundesstaaten an der Tagesordnung ist. Die sozialdemokratische Fraktion im Deutschen Reichstage wird ersucht, sich der Sache anzunehmen und dafür zu sorgen, daß solche augenscheinlichen Gesetzesverletzungen nicht mehr vorkommen. 2. Der Kongreß verurteilt ganz entschieden die barbarischen Ausweisungen polnischer und dänischer Arbeiter, welche erst den Kapitalisten zuliebe ins Land gezogen und, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan, unbarmherzig über die Grenze gejagt und dem Elend preisgegeben werden. 3. Der Kongreß protestiert gegen jede Einmischung der Geistlichkeit in die Politik, insbesondere den immer häufiger vorkommenden Mißbrauch der Kanzel zu Schmähungen und Verleumdungen der Sozialdemokratie.

In einer weiteren Erklärung erklärte der Kongreß das Friedensmanifest des Zaren[3] als bewußte Täuschung und sprach der russischen Regierung als der Hauptfeindin des internationalen und speziell des polnischen Proletariats seine tiefste Mißachtung aus,

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[1] Dieser Beitrag ist nicht gezeichnet, ist aber wahrscheinlich die Notiz, die von Rosa Luxemburg im Brief an Leo Jogiches vom 27. Dezember 1898 erwähnt wird, siehe GB, Bd. 1, S. 235. – Am 10. September 1893 hatte sich die 1890 gegründete Vereinigung polnischer Sozialisten unter Führung von Franciszek Morawski und Franciszek Merkowski mit anderen polnischen sozialistischen Gruppen zur Polska Partia Socjalistyczna (PPS – Polnische Sozialistische Partei) des von Preußen annektierten Teiles von Polen konstituiert. Sie blieb bis 1903 autonomer Bestandteil der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Rede zu den Reichstagswahlen am 5. Juni 1898 in Breslau. In: GW, Bd. 6, S. 114 ff.

[3] Auf Initiative Rußlands, das im internationalen Wettrüsten nicht Schritt halten konnte, sollte eine internationale Konferenz zu Fragen der Aufrechterhaltung des Friedens und der Einschränkung der Rüstungen stattfinden. Am 12. August 1898 hatte die zaristische Regierung allen ausländischen Gesandten in Petersburg eine entsprechende Note überreicht. In einem zweiten Schreiben vom 11. Januar 1899 formulierte sie die Tagesordnungspunkte, die für die vom 18. Mai bis 29. Juni 1899 in Den Haag stattfindende sogenannte Friedenskonferenz als Verhandlungsgrundlage dienen sollten. Siehe auch Rosa Luxemburg: Ein neues zaristisches Rundschreiben. In: GW, Bd. 6, S. 255 ff.