Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 779

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Die Revolution in Rußland

[1]

Die streikenden Post- und Telegraphenbeamten halten sich wacker. Die russische Regierung ist nach wie vor auf den Dienst von Polizeispitzeln und dergleichen „Arbeitswilligen“ angewiesen. Ein Telegramm aus Petersburg über Eydtkuhnen meldet: Der Ausstand der Post- und Telegraphenbeamten hält nach wie vor an. Die Ausständigen sind guten Muts und überzeugt, durch Ausdauer ihre Forderungen durchsetzen zu können. Graf Witte[2] sei für deren Erfüllung, das einzige Hindernis sei Durnowo.[3] Unterdessen arbeitet die Post so gut es eben geht mit Unterstützung von 2000 Freiwilligen aus dem Publikum. Nach wie vor herrscht um die Postgebäude eine ziemliche Bewegung; auf- und abgehende Patrouillen und im Schritt reitende Kosaken locken viele Neugierige an. Durch die Residenz ziehen Tag und Nacht berittene Patrouillen.

Eine Versammlung der Post- und Telegraphenbeamten beschloß, weiter zu streiken.

Ein anderes Telegramm besagt: Petersburg, 6. Dezember. (Über Eydtkuhnen.) Die Lage in Petersburg ist unverändert. Die ausständigen Post- und Telegraphenbeamten halten daran fest, daß sie den Rücktritt Durnowos herbeiführen wollen. Sympathiebezeugungen und Spenden gehen ihnen in großer Zahl zu. Der Verband der Staatsbeamten sprach ebenfalls in einer mit zahlreichen Unterschriften versehenen Resolution seine Zustimmung zu den Bestrebungen der Post- und Telegraphenbeamten aus.

Die Regierung versucht indessen, wie verspätete Telegramme der Petersburger Agentur zeigen, durch neue Gewaltakte den Brand noch zu schüren:

Wladimir, 3. Dezember. (Über Eidtkuhnen von der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Hier sind zwei Studenten und sieben Telegraphenbeamte wegen Beteiligung am Ausstande verhaftet worden.

Moskau, 5. Dezember. (Über Eidtkuhnen von der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Ein Teil der verhafteten Mitglieder des Post- und Telegraphen-Verbandes wurde freigelassen.

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 377 ausgewiesen.)

[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.

[3] Der Innenminister Pjotr Durnowo hatte den Allrussischen Verband der Angestellten des Post- und Fernmeldewesens verboten. Dagegen hatte der Kongreß des Verbandes am 15. November 1905 zum Proteststreik aufgerufen.