Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 780

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Die Drohung des Generalstreiks wirkt!

Wie sehr die Arbeiterschaft den Absolutismus durch ihre wunderbar ausgeführte Generalstreikaktion Mores gelehrt hat, zeigt der folgende von der Zeitung „Ruß [Otetschestwa]“ [Rußland] gemeldete Fall. Ingenieur Sokolow und noch einige Eisenbahnbeamte wurden wegen des letzten Ausstandes von dem Kommandanten der Festung Kuschka (Transkaspien) einem Kriegsgericht übergeben und zum Tode verurteilt. Davon erfuhr zuerst der Präsident des Samaraschen Eisenbahnkomitees und meldete es dem Zentraleisenbahnbüro in Moskau mit dem Hinweis, daß im Falle der Vollstreckung des Urteils sofort ein allgemeiner Eisenbahnerstreik ausbrechen würde. Von Moskau erging dann Drahtnachricht an Graf Witte, den Verkehrs- und den Kriegsminister sowie den Generalstab, weiter an sämtliche Eisenbahnen mit der Aufforderung, die Aufhebung des Todesurteils zu verlangen. Der Verkehrsminister setzte hierauf die Eisenbahnen in Kenntnis, daß die Vollstreckung vorläufig aufgehoben sei.

Die „Petersburger Telegraphen-Agentur“ teilt hierzu mit, daß weder dem Grafen Witte, noch dem Kriegsminister von dem Urteil etwas bekannt war. Letzterer richtete sofort nach Eingang der Meldung Anfragen nach Kuschka, Aschchabad und Taschkent und befahl gleichzeitig, die Vollstreckung des Urteils, falls es überhaupt gefällt sei, aufzuschieben. Das Fehlen einer amtlichen Meldung dürfte eine Folge des Telegraphenstreiks gewesen sein.

Ein Muster der Klassensolidarität

Der „Frankfurter Zeitung“ wird gemeldet: Petersburg, 7. Dezember. Der Verband der Moskauer Buchdruckereigehilfen erklärte, gegenwärtig einzelne ökonomische Ausstände nicht unterstützen zu können, weil das ganze Proletariat zum politischen Generalstreik rüste, der der Regierung den letzten Schlag versetzen soll.

Der Priester Gapon[1] scheint selbst zu fühlen, daß seine Rolle ausgespielt ist. Ein Telegramm meldet: Petersburg, 7. Dezember. Der Priester Gapon hat sich entschlossen, Rußland zu verlassen und beabsichtigt in Paris dauernden Aufenthalt zu nehmen.

Ein neuer terroristischer Akt

Nach längerer Pause scheint wieder der von der Partei der „Sozialisten-Revolutionäre“[2] angewendete Terror in Tätigkeit zu kommen. Wie der „Daily Telegraph“ meldet, ist der frühere Kriegsminister General Sacharow, der das Gouvernement Saratow bereiste, um die unruhigen Bauern zu beschwichtigen, am 5. Dezember von einer der revolutionären Partei angehörigen Frau erschossen [worden]. Die Frau begab sich in das Haus des Gouverneurs von Saratow und verlangte den sich dort aufhaltenden General zu sprechen. Als sie vor Sarachow stand, feuerte sie drei Schüsse auf ihn ab, die ihn auf der Stelle töteten.

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[1] Der russisch-orthodoxe Priester Georgi Gapon entstammte einer jüdisch-ukrainischen Bauernfamilie, konvertierte früh zum Christentum und wirkte als Gefängnispfarrer. 1903 hatte er die Versammlung der Russischen Fabrikarbeiter in St. Petersburg ins Leben gerufen, die von der Geheimpolizei Ochrana unterwandert wurde. Dem Demonstrationszug der Petersburger Arbeiter am (9.) 22. Januar 1905 war er mit einer Bittschrift an Zar Nikolaus II. vorangeschritten, der die friedlich Demonstrierenden zusammenschießen ließ.

[2] Die 1901/1902 entstandene Partei der Sozialisten-Revolutionäre (Sozialrevolutionäre) vertrat die Interessen des Kleinbauerntums und hatte die Beseitigung des Zarismus und eine demokratische Republik zum Ziel. Zu ihren Kampfmitteln gehörten terroristische Anschläge. Später spaltete sie sich in einen linken und rechten Flügel.