Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 367

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Die Masse als Führerin

[1]

Wie wir von Anfang an vermutet haben, spielen die belgischen Parteiführer, speziell die sozialistische Kammerfraktion, in diesem Augenblick die Rolle der Geführten. Bemerkenswert war die Haltung der Arbeiterabgeordneten in der Kammer bei den Manipulationen der Regierung, als diese sich durch die Votierung der provisorischen Budgetzwölftel für einige Zeit freie Hand schaffen wollte; ferner ihre Haltung gegenüber der Forderung der Liberalen, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben, was gleichfalls eine Hinausschiebung des Entscheidungsmoments bedeutete. In beiden Fällen schwiegen die sozialistischen Abgeordneten und ließen die Mehrheit gewähren. Auch die bereits für das Ende der vorigen Woche geplanten Manifestationen wurden durch das Betreiben der Abgeordneten auf die laufende Woche hinausgeschoben.

Es ist begreiflich, daß die Parteileitung vor der Verantwortlichkeit für die bei jeder Massenerhebung unvermeidlichen Gefahren, Opfer und unvorhergesehenen Wendungen zurückschreckt. Allein, sie wird, wie jedes Mal in Belgien, durch die Massen zur Entscheidung gedrängt. Am Montag ist bereits, ohne das Signal der Partei abzuwarten, der Generalstreik proklamiert worden. Der „Peuple“ konstatiert es selbst:

„Der Generalstreik ist im ganzen Lande proklamiert worden, nicht durch politische Organe der Arbeiterpartei, sondern durch ihre ökonomischen Vertreter, nicht durch ihre Abgeordneten, sondern durch die Gewerkschaftsführer.

Es ist das organisierte Proletariat selbst, das soeben den feierlichen Entschluß gefaßt hat, da es keine anderen Mittel zum Siege sieht, die Arbeit überall niederzulegen.“[2]

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[1] Der Artikel erschien anonym in der Rubrik „Politische Übersicht“. Rosa Luxemburg ist vermutlich die Autorin. Zur ihrer Rolle in der Leipziger Volkszeitung hatte sie Clara Zetkin am 16. März 1902 berichtet, sie werde ab 1. April 1902 zusammen mit Franz Mehring die politische Leitung der Leipziger Volkszeitung übernehmen und alles so ordnen, „um Weiteres von hier aus durch Artikel und Übersichten zu tun“. [Redaktionelle Hervorhebung.] Der belgische Wahlrechtskampf bildete außerdem 1902 einen Schwerpunkt ihrer Beobachtungen und Analysen. Siehe: „Der dritte Akt“, „Steuerlos“, „Die Ursache der Niederlage, „Das belgische Experiment“ und „Zum dritten Male das belgische Experiment“. In: GW, Bd. 1, 2. Halbbd., ab S. 195.

[2] Der Massenstreik in Belgien begann am 14. April 1902. Es beteiligten sich über 300000 Arbeiter. Er wurde am 20. April vom Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.