Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 368

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/368

Angesichts dieses selbständigen Vorgehens der Arbeitermasse bemühen sich die politischen Führer nun, möglichst Ruhe zu predigen, von allen Demonstrationen abzuraten und erwartungsvolle Blicke – auf den König Leopold zu richten.

„Der Generalstreik“, schreibt der „Peuple“, „wird dauern bis zu dem Moment, wo von oben eine berufene Stimme das Wort des Friedens und der Klugheit herabsenden wird.“

Es ist sehr wohl zu begreifen, daß die Führer die Verantwortlichkeit für leicht mögliches Blutvergießen, für alle unübersehbaren Folgen einer regelrechten Revolution nicht so ohne weiteres übernehmen möchten. Allein, die Bewegung ist nun einmal infolge ihrer eigenen jahrelangen Agitation in Fluß, der Stein ist ins Rollen gekommen, und da kann, wie geschichtliche Erfahrungen beweisen, eine Verschleppungs- und Abwiegelungstaktik im entscheidenden Moment sehr leicht nur das Gegenteil von dem Gewollten erreichen, nämlich eine Verschlechterung der Position der Kämpfenden und deshalb Vergrößerung der befürchteten Opfer.

Daß z. B. auch die Rücksicht auf ängstliche bürgerliche Gemüter, die bei der bezeichneten Taktik des belgischen Parteivorstandes sicher eine Rolle spielt, manchmal ganz falsch ist, beweist die folgende bezeichnende Zuschrift aus Offizierskreisen, die der vorgestrige „Peuple“ veröffentlicht.

Ein Offizier schreibt uns: „Ich bin kein Sozialist und es ist nicht meine Sache, Sie über den unter den Soldaten herrschenden Zustand der Geister zu unterrichten; wahrscheinlich kennen Sie ihn besser als ich.

Aber als empörter Augenzeuge des gewollten und vorbedachten Massakre der Brüsseler Bevölkerung kann ich nicht umhin, Ihnen mitzuteilen, was alle meine Kollegen vom Regiment denken und sagen. Wenn die Armee auf die Straßen abbeordert worden wäre, so hätte es wahrscheinlich, ausgenommen ganz außerordentliche Ereignisse, keine Toten gegeben.

Wir Offiziere sind formell verpflichtet, keinen Gebrauch von den Waffen zu machen, bevor wir die gesetzlichen Aufforderungen gemacht haben. Wir müssen rufen: ‚Daß sich gute Bürger zurückziehen, es wird geschossen!‘ oder aber: ‚Das Bajonett wird aufgepflanzt.‘

Demnach ist jedermann gewarnt. Wer bleiben und sich schlagen, mit einem Wort, die Revolution machen will, stellt sich auch vor die Gefahren einer Unterdrückung, in der Voraussetzung, daß sich die Soldaten dazu hergeben. Harmlose Passanten aber, Neugierige und unbewaffnete Manifestanten können sich sodann zurückziehen.

In Brüssel habe ich nichts Derartiges wahrgenommen. Von einer Brutalität, die ich nicht im Kriege gesehen habe (und ich habe die mexikanische Expedition mitgemacht) stürzen sich Gendarmen und Polizisten auf die Menge, hauen ein mit dem Säbel und töten mitleidlos, verwunden Frauen, Kinder, Arbeiter, die von ihrer Arbeit zurückkehren, von dem unglücklichen Arbeiter von Linketeck bis zum Herrn De

Nächste Seite »