Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 699

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Die Revolution in Rußland

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Die ungeschriebene Verfassung

Die Lage spitzt sich in diesem Augenblick in Rußland und namentlich in Petersburg so scharf zu, daß die Verhängung des Belagerungszustandes auch in der Hauptstadt an der Newa demnächst zu erwarten ist. Die Banditen des Zarismus wollen offenbar den verzweifelten Versuch machen, der vorwärtsstürmenden Revolutionsbewegung gewaltsam Einhalt zu tun. Aber das ist eben das Charakteristische der Revolution: Inzwischen hat sich, mitten im Sturm und Drang, ohne die Entschlüsse der Regierung und den „gesetzlichen“ Federzug der Kanzlei abzuwarten, bereits die politische Freiheit auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens so kräftig durchgesetzt, daß es ein Zurück gar nicht mehr geben kann. Neben den unaufhörlichen Massenversammlungen, die in allen Städten des Reiches zur täglichen Erscheinung, zum Lebensbedürfnis für die breitesten Volksschichten geworden sind, bietet namentlich die russische Presse gegenwärtig ein ganz eigenartiges Stück dieser „ungeschriebenen“ politischen Verfassungsfreiheit.

Ein eigentliches Pressegesetz ist ja noch gar nicht erschienen, formell existiert die Zensur in ihrer ganzen Rigorosität. Nächstens soll erst ein Gesetz veröffentlicht werden, wonach bei Zeitungsgründungen eine wesentliche Erleichterung eintritt: Für die russischen Blätter muß nur eine Anzeige 14 Tage, für nichtrussische drei Monate vor dem Erscheinen der ersten Nummer gemacht werden. Tatsächlich jedoch herrscht heute schon in der Presse Petersburgs, Moskaus, Warschaus eine Freiheit, wie sie in dem „Rechtsstaat“ Preußen-Deutschland erst zu wünschen wäre. An der Zensur kehrt sich kein Blatt mehr, sie wird einfach ignoriert. Auf die strenge Ermahnung des Zensuramts erwidern die Redaktionen: Die Zensur widerspreche dem zaristischen Verfassungsmanifest[2] und sei also widerrechtlich. Blätter, die von den Behörden verboten werden, erscheinen ruhig weiter. Dabei herrscht in der oppositionellen Presse der schärfste Ton der politischen Kritik; die politische Karikatur und der politische Witz schärfen völlig ungeniert ihre Pfeile. In dieser freien Luft differenziert sich die Presse nach Parteirichtungen mit jedem Tage deutlicher. Eine ganze Reihe radikaler Arbeiterblätter sind bereits in Petersburg erschienen, so: „Golos Naroda“ („Volks-

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.