Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 698

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Partei, die die nationalpolnische Losung vertrat, die „Polnisch-Sozialistische Partei“, hat erst vor drei Monaten offiziell erklärt, daß auch sie nunmehr einsieht, ein nationalpolnischer Aufstand sei heutzutage in Polen vollkommen utopisch. So sind denn in den kräftigen Wellen der allgemeinen proletarischen Revolution des Zarenreiches, die alle Arbeiter ohne Unterschied der Nationalität zu einem Heere verbunden und vor ein gemeinsames Ziel: die Erringung der politischen Freiheit im ganzen Zarenreich gestellt hat, die letzten schwachen Reste der alten nationalpolnischen Bewegung verschwunden. Die „nationale“ Phrase dient heutzutage in Polen nur noch als Deckmantel für die blutigste Reaktion der polnischen Bourgeoisie sowie des Kleinbürgertums und als bequemer Vorwand für Gewaltstreiche des Knutenregiments. Genauso wie die große „nationale“ Demonstration, die kürzlich von den „Edelsten und Besten“ in Warschau arrangiert worden ist, die Losung hatte: Es lebe die Einigkeit des Volkes gegen die „klassenverhetzende“ Sozialdemokratie, ebenso gehen der heiße Wunsch und die neulichen lakaienhaften „Deputationen“ der polnischen Bourgeoisie nach Petersburg dahin, durch eine möglichst rasche Pazifizierung des polnischen Proletariats vermittelst noch so schwächlicher autonomer Freiheiten die ersehnte „Ruhe“ und „Ordnung“ wiederherzustellen und die revolutionäre Sozialdemokratie sodann zu erdrosseln.[1]

Aber die Spekulationen der polnischen Reaktionäre wie der zaristischen Knutenschergen schlagen nun einmal fehl. Die Warschauer „Einigkeitsdemonstration“ der Bourgeoisie hat in Polen den Partei- und Klassenkampf nur noch zu höherer Flamme entfacht. Und der Belagerungszustand, der das polnische Proletariat von der russischen Revolution isolieren sollte, ruft gerade die erste planvolle kräftige Solidaritätsaktion des revolutionären russischen Proletariats zu Hilfe seinem polnischen Klassengenossen!

Kein Tag ohne neue moralische Siege, keine Stunde ohne neue Fortschritte der Revolution! Es ist eine Lust zu leben!

Vorwärts (Berlin),

Nr. 270 vom 17. November 1905.

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Die zaristische „Verfassung“, gemildert durch den Massenmord. In: GW, Bd. 6, S. 609 ff.; dies.: Der „Verfassungsstaat“ der Mordbuben. In: ebenda, S. 629 ff.; dies.: Die Revolution in Rußland. In: ebenda, S. 646 ff.