Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 880

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[Gegen Mißbrauch der Reichstagstribüne]

Genosse Scheidemann gestattete sich am Schluß der Freitagssitzung des Reichstages in einer persönlichen Bemerkung die Erwiderung des „Vorwärts“ auf einen Artikel des von Scheidemann redigierten Kasseler „Volksblatts“ als „geschmacklos“ und „verfehlt“ zu bezeichnen.[1] Bisher war die Benutzung der Reichstagstribüne zur Erteilung von öffentlichen Rügen an die Parteipresse nicht üblich; wir sehen deshalb in dem Vorgehen des Genossen Scheidemann nur eine Entgleisung eines einzelnen Abgeordneten. Was die Äußerung des Genossen Scheidemann selbst angeht, begnügen wir uns mit der Feststellung, daß der Vorwurf der „Geschmacklosigkeit“ lediglich das Kasseler „Volksblatt“ und seinen leitenden Redakteur trifft, da dieser einem seiner Mitarbeiter Gelegenheit geboten hat, die „neue historisch-ökonomische Redaktion“ des „Vorwärts“ in unmotivierter Weise anzurempeln.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 283 vom 3. Dezember 1905.

[Zu den Gemeinderatswahlen in Brünn]

Ein bedauerliches Resultat des nationalen Bruderzwistes zwischen den deutschen und tschechischen Genossen in Österreich ist in der gestern vollzogenen Gemeinderatswahl in Brünn zum Ausdruck gekommen. Bei dieser ersten Wahl in der neugebildeten vierten Wählerklasse, auf Grund des allgemeinen Wahlrechts, sollten neun Gemeinderäte für ganz Brünn in einer einzigen Liste gewählt werden. Nun gerieten die deutschen und tschechischen Sozialdemokraten über die Kandidatenliste in Streit, jede Nationalität wollte für sich fünf Kandidaturen in Anspruch nehmen und der anderen nur vier überlassen. Der Schluß war, daß unsere Partei nicht geschlossen mit einer gemeinsamen, sondern mit zwei getrennten Listen in den Wahlkampf trat. Diese Zwistigkeit haben natürlich sofort die bürgerlichen Parteien für sich auszunutzen gesucht: Die Deutschparteiler[2] haben auf ihre eigene Liste alle fünf deutschen Kandidaten der Sozialdemokratie übernommen und sich mit vier eigenen beschieden.

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[1] Die Bemerkung von Philipp Scheidemann in der Debatte zur sozialdemokratischen Interpellation gegen die Steigerung der Fleischpreise lautete: „Herr Graf zu Reventlow hat weiter gesagt, daß der ‚Vorwärts‘ mir empfohlen hätte, erst mehr Kenntnisse sammeln, bevor ich über Handelspolitik schreibe. Damit hat Herr Graf zu Reventlow eine objektive Unwahrheit ausgesprochen. Ein Vorwärtsredakteur hat in ebenso geschmackloser wie durchaus verfehlter Weise die betreffenden Bemerkungen gemacht gegenüber dem Verfasser eines Artikels, der ausdrücklich gekennzeichnet war als nicht von mir herrührend. Mit keinem Wort ist in der ganzen Auseinandersetzung von meiner Person die Rede gewesen.“ Reventlow bezeichnete seine Äußerung als Irrtum. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, XI. Legislaturperiode. II. Session 1905/1906. Erster Sessionsabschnitt vom 28. November 1905 bis zur Vertagung der Session am 28. Mai 1906. Erster Band, Berlin 1906, S. 75 C und 75 D.

[2] In der Quelle: Zentrumsparteiler. Nach Druckfehlerberichtigung im Vorwärts Nr. 287 vom 8. Dezember 1905 muß es Deutschparteiler heißen.