Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 426

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Der Maulkorb des Philisters

[1]

Wenn einer mal Pech haben soll, so hat er es überall. Der deutsche Parlamentarismus darf sich nicht über ein Unmaß guter Tage beklagen, aber wenn während seiner Ferien die raueste Witterung herrschte, obgleich der Monat Mai im Kalender steht, und dann, so wie sich die parlamentarischen Pforten wieder öffnen, der Frühling gleich mit 18 Grad Reaumur im Schatten einsetzt, so ist es ein Malheur, wie es nur ausgesuchten Pechvögeln zuzustoßen pflegt.

Trotz seiner Diäten war denn auch das preußische Abgeordnetenhaus nur spärlich besetzt, als die Polenvorlage zur ersten Lesung gelangte.[2] Über das Monstrum ist an dieser Stelle ausführlich berichtet worden,[3] und es genügt zu sagen, daß der Eindruck seiner Monstrosität durch die Verhandlungen des preußischen Geldsackparlaments in keiner Weise abgeschwächt worden ist. Im Gegenteil, wenn man mit einiger Berechtigung erwarten durfte, daß die beleidigende Dürftigkeit der Motive durch eingehendere Ausführungen der Regierungsvertreter ergänzt werden würde, so ist diese Erwartung gänzlich getäuscht worden. Graf Bülow verschmähte sogar, das hohe Haus mit einigen Knallerbsen seiner anmutig abtrumpfenden Beredsamkeit zu ergötzen, und Herr v. Rheinbaben bestätigte nur einen allgemein gehegten Verdacht, als er mit feierlichem Pathos bestritt, daß diese Viertelmilliardenspende für die Rettung edelsten Deutschtums tatsächlich eine Rettungsbank für verkrachte Junker sein solle.

Es mag deshalb auch dahingestellt bleiben, ob die edlen Junker, aus denen die polnische Fraktion des preußischen Abgeordnetenhauses besteht, wirklich so würdevoll entrüstet waren, wie sie taten, als sie mit einem tönenden Protest gegen die Vorlage den Sitzungssaal verließen. Immerhin spielten sie ihre Rolle ganz leidlich, ungleich leidlicher als die übrigen Elemente der Opposition, als die Ultramontanen, die um ihrer Regierungsfähigkeit willen nun auch schon anfangen, von ihren alten polnischen Freunden merklich abzurücken, oder als die liberalen Redner, von denen keiner der Vorlage so mitspielte, wie sie verdient hätte. Auch Herr Eugen Richter nicht, der diese kolossale Verschleuderung aus dem Säckel der Steuerzahler als von vornherein verkrachtes Unternehmen ganz treffend beleuchtete, aber dann doch nicht umhin konnte, seinen biederen Schwurfinger auf den Altar des Vaterlandes zu strecken mit

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Sie war zu dieser Zeit Mitarbeiterin der Leipziger Volkszeitung. Als Abschrift befindet sich der Artikel in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.

[2] Am 27. Mai 1902 hatte der preußische Ministerpräsident, Graf von Bülow, das Gesetz zur Beförderung der deutschen Ansiedlung und zur Stärkung des Deutschtums in den Provinzen Westpreußen und Posen in das preußische Abgeordnetenhaus eingebracht. Die konservative Mehrheit verabschiedete die Vorlage am 5. Juni 1902. Die Ansiedlungskommission wurde mit einem Etat um weitere 150 Millionen Mark auf insgesamt 350 Millionen Mark ausgestattet.

[3] Siehe Rosa Luxemburg: Flottwellsche Politik. In: GW, Bd. 6, S. 415 ff.