Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 232

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/232

Nach 20 Jahren

[1]

Es sind morgen, am 21. Oktober, genau zwanzig Jahre her, seit das größte Schandmal der deutschen Geschichte, das Sozialistengesetz, durch eine Publikation im „Reichsanzeiger“ rechtskräftig wurde.[2] Es ist eine im ganzen sehr kurze Spanne Zeit, – bloß zwei Jahrzehnte. Allein, wenn man auf diese verflossenen zwei Jahrzehnte der deutschen Geschichte einen Rückblick wirft, so muß man sagen – es ist in dieser kurzen Zeit ungeheuer viel geschehen. Die Verschiebung der Kräfte und der Verhältnisse im Innern Deutschlands, die inzwischen Platz gegriffen hat, ist eine enorme. Die kapitalistische Gesellschaft hat in ihrer Entwicklung einen großen Schritt vorwärts getan, – „die Toten reiten schnelle“. …

Durch die Kriege der Jahre 1866 und 1871[3] wurde für die politische Neukonstituierung Deutschlands der Grundstein gelegt.[4] Das vereinigte Deutsche Reich war der politische Rahmen, dessen der Kapitalismus bedurfte, um die in ihm schlummernden mächtigen Kräfte zu entfalten. Gleich nach dem Jahre 1871 beginnt in Deutschland eine Ära fieberhafter großindustrieller Gründungen, die sofort alle kapitalistischen Elementargeister auf die soziale Bühne heraufbeschwor: Unternehmerschwindel, politische Korruption der bürgerlichen Parteien als unentbehrliches Hilfsmittel der Profitmacherei, rücksichtsloseste Ausbeutung der Arbeiterklasse. Aber zu den Elementargeistern des Kapitalismus gehört auch – die Arbeiterbewegung. Ein

Nächste Seite »



[1] Der Artikel erschien anonym, stammt aber sehr wahrscheinlich von Rosa Luxemburg. Seit 25. September 1898 war sie Redakteurin der Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden) und konzentrierte sich auf die beiden ersten Seiten des Blattes, siehe GB, Bd. 1, S. 204 ff. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Artikel unter Nr. 99 ausgewiesen.

[2] Das mit 221 gegen 149 Stimmen im Deutschen Reichstag angenommene „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat am 21. Oktober 1878 mit seiner Verkündigung in Kraft.

[3] Vom 25. Juni bis 23. August 1866 fand zwischen Österreich und Preußen ein Krieg um die Vorherrschaft in Deutschland statt, der mit einer Niederlage Österreichs endete. Das Ergebnis war die Gründung des Norddeutschen Bundes.

Am 19. Juli 1870 erklärte Frankreich Preußen den Krieg mit dem Ziel, die Einigung Deutschlands zu verhindern. Am 26. Februar 1871 erfolgte der Abschluß des Präliminarfriedensvertrages zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich in Versailles, durch den die preußisch-deutschen Eroberungsziele sanktioniert wurden: Frankreich mußte das Elsaß und einen großen Teil Lothringens mit reichen Erzvorkommen an Deutschland abtreten und innerhalb von drei Jahren fünf Mrd. Francs Kontributionen zahlen.

[4] Das deutsche Kaiserreich wurde am 18. Januar 1871 in Versailles proklamiert und die Einigung Deutschlands unter preußischer Hegemonie von oben abgeschlossen. Der König von Preußen, Wilhelm I., wurde deutscher Kaiser.