Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 135

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/135

Aus Frankreich (Ein neuer Zeuge gegen Esterhazy und du Paty de Clam. – Zolaprozesse. – Jaurès und die Dreyfus-Affäre. – Guesdisten.)

[1]

Im „Siècle“ veröffentlicht Graf Christian Esterhazy immer interessantere Enthüllungen.[2] Er war bei allen Machinationen seines Vetters mit du Paty de Clam zugegen und stellt nun fest: daß beide Telegramme an „Speranza“ und „Blanche“, welche den Zweck hatten, Picquart zu kompromittieren, von der Dame Pays geschrieben, von du Paty de Clam diktiert und von Esterhazy abgeschickt wurden; daß er, Graf Christian, die bekannten Briefe der „verschleierten Dame“ auf Wunsch seines Vetters geschrieben hat; daß endlich das rettende Dokument, welches Esterhazys Unschuld definitiv dartun sollte, dem Letzteren von du Paty de Clam verschafft wurde, und zwar unter solchen Umständen, daß Esterhazy das Papier ins Kriegsministerium überbrachte, ohne Zeit gehabt zu haben, es selbst zu lesen, weshalb er auch am anderen Morgen auf die Frage des Generals Pellieux, wie das Dokument beginne, keine Antwort zu geben wußte. – Daß diese Enthüllungen für den Generalstab sehr fatal sind, braucht nicht erst erörtert zu werden. Jedenfalls erscheint aber auch der gräfliche Vetter des Fälschers Esterhazy in einem netten Lichte. Der Biedermann hatte seine Hand in allen dunklen Geschäften seines Verwandten, denunziert ihn aber erst, als er durch ihn in Geldverluste gekommen ist. Auch Ebenbürdige etc.

Auf der anderen Seite wird auch der gegen Zola vom Generalstab durch das „Petit Journal“ gerichtete Coup voraussichtlich ein schlimmes Ende nehmen. Die „Petite République“ fährt fort, Beweise für die Falschheit des gegen Zolas Vater im „Petit Journal“ veröffentlichten angeblichen Brief des Generals Combe aus dem Jahre 1832 zu erbringen, das „Petit Journal“ antwortet darauf – mit einem hartnäckigen Schweigen. Zola, der schon den Prozeß wegen Verleumdung vor dem Zuchtpolizeigerichte gewonnen hat, hat auch bereits die Klage wegen Fälschung eingereicht. –

Angesichts der Wichtigkeit der Dreyfus-Affäre[3] für das öffentliche Leben in Frankreich – Gérault-Richard sagt treffend in der „Petite Rép[ublik]“: „Die Dreyfus-Frage hat mehr Diskussionen im Parlament hervorgerufen als Panama, sie hat alle Parteien erschüttert, sie zerklüftet Familien, Frankreich, die zivilisierte Welt in zwei Lager. Die Erschütterung, welche sie im Gesellschaftskörper verursacht hat, ist so stark, daß alle seine Schwächen und Krankheiten auf die Oberfläche getreten sind.“ – Angesichts

Nächste Seite »



[1] Diese Notiz ist mit II, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen, An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.

[2] Siehe auch S. 127 und 132.

[3] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.