Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 160

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Die Dreyfus-Affäre

[1]

wird immer verwickelter, obwohl man es gar nicht für möglich halten sollte.[2] Das Ministerium ist vollkommen zerrüttet, schreibt man der „Voss[ischen] Ztg.“ unterm 13. d. M. aus Paris, und wenn es nicht gestern nach dem achtstündigen Ministerrat in Trümmer gegangen ist, so ist dies bloß dem Verlegenheitsantrag Sarriens zu verdanken, der eine neue Vertagung des Wiederaufnahmebeschlusses verlangte, da er die Dreyfus-Papiere weiter prüfen müsse. Über den Verlauf der überaus stürmischen Ministerratssitzung wird amtlich Schweigen beobachtet, man kennt ihn aber dennoch, mindestens in den großen Zügen. General Zurlinden erklärte, das Wiederaufnahmeverfahren dürfe nicht stattfinden, bestehe man darauf, so trete er zurück. Brisson fand darauf zum ersten Male entschlossene Töne; er erinnerte Zurlinden an die Begründung, mit der Cavaignac sein Portefeuille niederlegte und bemerkte, wenn Zurlinden nach Cavaignacs Briefe eingewilligt habe, dessen Nachfolger zu werden, so habe dies doch nur bedeuten können, daß er einen anderen Standpunkt einnehme als sein Vorgänger. Der Kriegsminister antwortete sehr erregt, er habe nur auf dringende Vorstellung Faures eingewilligt, ins Kabinett einzutreten, ob man denn wolle, daß er General Mercier verhaften lasse, wie er es tun müsse, wenn man der Sache auf den Grund gehen wolle? Brisson rief darauf: Mercier und jeden andern Schuldigen, denn wir haben die Pflicht, die Republik von tödlichen Krankheitsstoffen zu reinigen. Weiter wird erzählt, Bourgeois habe sich entschlossen auf Brissons Seite gestellt, während Lockroy, Tillaye und Berger für Zurlinden Partei genommen hätten. Faure, der den Vorsitz führte, sei lange stumm geblieben, habe jedoch schließlich zum allgemeinen Staunen das Wort genommen, um sich mit größter Entschiedenheit gegen das Aufnahmeverfahren auszusprechen, was zur Folge gehabt hätte, daß Brisson ihm mit aller Deutlichkeit die unausbleibliche Wirkung seiner Politik auseinandersetzte. Heute wird versichert, Brisson unterhandle mit General Brugère wegen Übernahme des Kriegsportefeuilles und habe bereits Brugères Einwilligung.

General Zurlinden will aus seiner „Lektüre“ des Dossiers Dreyfus die Überzeugung gewonnen haben, daß die Revision des Prozesses unmöglich ist. Jeder andere General, so schreibt die „Frankf[urter] Ztg.“, dem das militärische Interesse höher

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, aber vermutlich von Rosa Luxemburg, da er in unmittelbarem Zusammenhang mit den vorhergehenden Beiträgen zum Thema steht.

[2] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.