Am Tage nach der sozialen Revolution
[1]Nachdem wir vor acht Tagen die erste der beiden kleinen Schriften, die Genosse Kautsky über die soziale Revolution veröffentlicht hat, an dieser Stelle besprochen haben, möchten wir heute auch noch der zweiten einige Worte widmen. Sie führt den Titel: Am Tage nach der sozialen Revolution, und dieser Titel wird vielleicht ein gewisses Mißtrauen gegen sie erwecken. Er klingt etwas blanquistisch, indem er unwillkürlich die Vorstellung hervorruft, als werde die Arbeiterklasse einmal durch einen Handstreich die politische Gewalt an sich reißen, um sich dann den Kopf zu zerbrechen, was nunmehr zu tun sei, und er ruft den Verdacht hervor, als seien wir nun doch glücklich dahin gelangt, wohin Marx schon vor 30 Jahren erklärte, niemals gehen zu wollen, nämlich dahin, Rezepte für die Garküche der Zukunft zu ersinnen.
In der Tat kann es nichts Törichteres geben, als die Gestalt der sozialistischen Gesellschaft vorhersagen zu wollen. Je komplizierter die gesellschaftlichen Zusammenhänge werden, desto unmöglicher ist es, ihre Entwicklung auch nur für Jahre oder für Jahrzehnte, geschweige denn für Jahrhunderte oder Jahrtausende zu prophezeien. Die Gegner des proletarischen Emanzipationskampfes sind gleich bei der Hand, diese Unmöglichkeit in dem Sinne auszubeuten, daß sie sagen: Ihr kämpft also für die sozialistische Gesellschaft, von der ihr selbst sagt, daß ihr nicht wißt, wie sie aussehen wird. Allein dieser Einwand ist nichts als eine lächerliche Fanfaronade, die, wenn man sie einen Augenblick ernsthaft nehmen wollte, überhaupt jeden gesellschaftlichen Fortschritt im Keime ersticken würde. Jede unterdrückte Klasse ringt danach, das Joch zu zerbrechen, das sie in den Staub drückt, gänzlich unbekümmert darum, wie sie ihre Glieder recken und strecken wird, wenn sie die Ketten von ihnen gestreift haben wird. Niemand hat diesen „alten Urstand der Natur“ ergreifender und schöner geschildert, als gerade die großen Vorkämpfer der bürgerlichen Klassen, deren entartete Nachfahren jetzt so viel von „sozialistischen Utopien“ zu faseln wissen, als gerade Schiller, der angebliche Lieblingsdichter der deutschen Bourgeoisie:
[1] Die Rezension ist nicht gezeichnet, mit Sicherheit aber von Rosa Luxemburg geschrieben, siehe S. 437, Fußnote 1.