Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 441

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Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,

Wenn unerträglich wird die Last – greift er

Hinauf getrosten Mutes in den Himmel

Und holt herunter seine ewigen Rechte,

Die droben hangen unveräußerlich

Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst –

Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,

Wo Mensch dem Menschen gegenüber steht –[1]

Das ist die einfache Philosophie jeder unterdrückten Klasse, der mächtigste Hebel jedes historischen Fortschritts; die Kant und Schiller, die Rousseau und Voltaire haben nicht umsonst gelebt, und sie werden als Wohltäter der Menschheit fortdauern, obgleich keiner von ihnen auch nur die blasseste Ahnung davon hatte, wie die bürgerliche Welt, deren bahnbrechende Vorkämpfer sie waren, 100 oder selbst nur 50 Jahre nach ihrem Tode aussehen werde.

Also auf den Befreiungskampf der modernen Arbeiterklasse fällt deshalb nicht der geringste Schatten, weil sie darauf verzichtet, das Bild der sozialistischen Gesellschaft auszumalen. Im Gegenteil, indem sie darauf verzichtet, bekundet sie eine größere Reife als die bürgerliche Klasse in den Tagen, wo sie das absolutistisch-feudale Joch zu zerbrechen suchte, denn diese Tage waren gerade die Blütezeit der Utopien aller Art, auch mancher sozialistischen. Aus dieser berechtigten Reserve herauszutreten, hat sie nur dann einen Anlaß, wenn die Gegner sich bemühen, im einzelnen nachzuweisen, daß der Sieg der Arbeiterklasse sie vor unlösbare Aufgaben stellen werde, oder wenn sich in den eigenen Reihen Leute finden, die sich nicht genug tun können in unheimlichen Prophezeiungen darüber, daß der Sieg des Proletariats zugleich seine Niederlage sein werde.

Diese Prophezeiungen in ihr Nichts zurückzuweisen, ist nun die Aufgabe, die sich Kautsky gestellt hat. So begrenzt, hat sie ihr gutes Recht und ihren guten Sinn. Kautsky sagt nicht voraus, wie die sozialistische Gesellschaft sein werde, sondern er widerlegt, was die Gegner und die Zweifler aus dem von ihnen vorausgesetzten Siege des Proletariats gefolgert haben. Allerdings läßt er sich nicht an der leichten Mühe genügen, diese zum Teil höchst törichten Einwürfe zu widerlegen, sondern geht in positiver Untersuchung auf die Probleme ein, die nach dem Siege der sozialen Revolution dem Proletariat gestellt sein werden. Aber er tut es – im Gegensatz zu jenen Gegnern und Zweiflern – in derjenigen Beschränkung, die eine wissenschaftliche Untersuchung dieser Probleme überhaupt erst ermöglicht. Er deduziert nicht: So wird es sein, sondern im Gegenteil: So wird es ganz gewiß nicht sein, aber so weit heute das Material einer wissenschaftlichen Untersuchung gegeben ist, sind die Aufgaben, die dem Pro

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[1] Friedrich Schiller: Wilhelm Tell. Schauspiel, Leipzig 1967, S. 46.