Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 475

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/475

Zur Zolltarifvorlage. Referat am 22. Januar 1903 in einer Volksversammlung im 4. Reichstagswahlkreis in Berlin

[1]

Nach einem Polizeibericht

Die Ereignisse der letzten Zeit sind in die Augen springend, wir stehen an einem Wendepunkte der deutschen Geschichte. Rednerin geht auf die Vorgänge im Reichstage ein, bei Beratung des Zolltarifs, und spricht von der frechen Junkerbande. Wir stehen in einem Industriekriege, die Arbeitslosigkeit wird immer größer, die Löhne im Baugewerbe werden immer mehr herabgesetzt, zu solcher Zeit haben die ostelbischen Junker den Überfall gemacht. Dem armen Volk soll das Brot vom Munde gerissen werden. Hierauf stellt Rednerin eine Berechnung auf, wie sich durch den Zolltarif die Verteuerung im Verhältnis zum Verbrauch gestaltet.[2] Die Herren, die nur auf die Fasanenjagd fahren und nicht im Reichstag erscheinen können, fühlen natürlich nicht die Mehrbelastung, sondern nur das arme Volk.

Studierte Sozialpolitiker haben eine Aufstellung gemacht, wie sich nach dem Einkommen der einzelnen Berufszweige der Arbeiter der Fleischkonsum für die einzelnen Familien gestaltet. Bei einer Kopfzahl von fünf Personen kämen auf diese etwa 1 Pfd. bis 0 Pfd. Wie wird nun noch, durch den Zolltarif, das Brot verteuert; es tritt für diese Familie jährlich ein Tribut von 50 Mark etwa ein. Was ist aber die Folge von einer derartigen Herabsetzung der Ernährung, es wird die Trinksucht, die Prostitution, das Verbrechen erzeugt. Der angenommene Zolltarif ist gleichbedeutend mit

Nächste Seite »



[1] Überschrift der Redaktion.

Zum Thema „Was steht auf dem Spiel?“ fanden am 22. Januar 1903 in den sechs Berliner Reichstagswahlkreisen und in 15 Vororten der Wahlkreise Teltow-Beeskow und Niederbarnim 32 Volksversammlungen mit ebenso vielen Referenten statt. Siehe Vorwärts, Nr. 16 vom 20. und Nr. 18 vom 22. Januar 1903. Am folgenden Tag gab der Vorwärts einen zusammenfassenden Bericht. Über den 4. Wahlkreis hieß es: „In der Drachenburg vor dem Schlesischen Tor fand ein so starker Zustrom von Besuchern statt, daß der Saal schon um ½8 Uhr abgesperrt wurde; später konnte dann durch Entfernen der Tische noch für eine Anzahl Personen Platz gemacht werden. Rosa Luxemburg geißelte treffend den schamlosen Überfall der Agrarier auf die Taschen des arbeitenden Volkes sowie die damit verbundenen Vorgänge. Die Entrüstung, die in ihrer Rede zum Ausdruck kam, fand lebhaften Widerhall in der Versammlung.“ Vorwärts, Nr. 19 vom 23. Januar 1903.

[2] Der am 14. Dezember 1902 vom Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossene Zolltarif sollte am 1. März 1906 in Kraft treten. Die Lebensmittelpreise würden enorm ansteigen, denn die Großhandelspreise sollten sich 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln 2, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um acht Prozent erhöhen. – Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die Erhöhung der Getreide- und Fleischzölle eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes und eines neuen Zolltarifs bekannt geworden waren. Danach sollten enorme Erhöhungen der Agrar- und einiger Industriezölle erfolgen, die für die Mehrheit der Bevölkerung auf eine wesentliche Verschlechterung der Lebenslage hinausliefen. – Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. 3,5 Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber der Vorlage des Bundesrates zur Erhöhung der Getreidezölle begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion kämpfte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 mal das Wort. Zollgesetz und Zolltarif wurden am 14. Dezember 1902 mit 202 gegen 100 Stimmen gebilligt und traten ab 1. März 1906 in Kraft.