Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 476

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einer Unsittlichmachung von Deutschland. Hierauf stellt Rednerin einen Vergleich an zwischen dem Verhalten der Mehrheitsparteien im Reichstage und den Raubrittern im Mittelalter.

Im Mittelalter raubten die Ritter die reichen Kaufleute aus, durch den Zolltarif wird das arme Proletariat ausgeraubt. Damals wurden die Ausgeraubten am Leben gelassen, jetzt wird das Leben durch die Verteuerung der Genußmittel verkürzt. Die hohen Brotpreise haben eine Schädigung der Gesundheit und einen frühen Tod im Gefolge.

Nach der Annahme des Zolltarifs hat der Reichskanzler die goldene Kette, der Proletarier aber die Hundekette bekommen, gemäß dem Wahlspruch auf dem Orden suum cuique.[1] Nachgewiesen ist, daß durch den Zolltarif der Bauer keinen Vorteil hat, sondern nur der Großgrundbesitzer. – Als wir nach [18]70 die Kriegskontributionen von Frankreich forderten, so hatte dieses Land viel zu zahlen, es wurde aber bald seine Schuld los. Wir werden aber den Tribut für die Reichen bei dem Zolltarif niemals los. Der Zolltarif ist eine Schande für Deutschland, er hat zur Folge, daß unsere Industrie in der Ausfuhr beeinträchtigt wird. Den Tribut zahlen nicht die Männer mit den goldenen Ketten, sondern wir armen Proletarier.

Was haben unsere Vertreter im Reichstag für ein Recht? Sie werden unterdrückt, das deutsche Parlament ist nur eine Klassenwirtschaft und nicht für das arme Volk. Wir sollen nur auf gesetzlichem Wege nach dem Zukunftsstaat streben, uns steht aber die Gewalt gegenüber. Da heben wir uns auf, zu unserer Diktatur zu [ermannen?], damit man uns nicht in den Orkus hinab wirft.

Es steht jetzt alles auf dem Spiel, es steht das Reichstagswahlrecht auf dem Spiel und noch mehr. Wenn wir aus dem Reichstage vertrieben werden, dann kommen wieder Zustände, wie sie im Mittelalter waren.

Die Sozialdemokraten sind als vaterlandslos bezeichnet worden, sie sind aber nach unserer Ansicht die einzige Stütze des Vaterlandes. Hierauf ermahnt Rednerin zu einer umfangreichen Agitation für die neuen Reichstagswahlen,[2] da alles auf dem Spiele steht. Sie schließt mit den Worten: Wenn uns unser Recht genommen wird, so bleibt uns nichts Anderes als unser eigenes heiliges Recht: „Die Revolution!“

LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 14927, Bl. 48–50.

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[1] Das Lateinische in der Quelle ist unentzifferbar. Es wurde von François Melis freundlicherweise aus der Ordensgeschichte erschlossen. Gemeint ist der von Friedrich I. gestiftete Hohe Orden vom Schwarzen Adler mit dem Motto „Jedem das Seine“.

[2] Als Termin der Reichstagswahlen war der 16. Juni 1903 vorgesehen.