Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 244

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Die Ministerkrise in Frankreich

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Ministerkrisen gehören in Frankreich sozusagen zum täglichen Brot. Die dritte Republik hat in den 28 Jahren ihrer Existenz 37 Ministerien verbraucht. Macht im Durchschnitt neun Lebensmonate für jedes Ministerium. Unter gewöhnlichen Umständen läßt daher eine Ministerkrise auch dasjenige Publikum, welches sich sonst für die politischen Vorgänge interessiert, kühl bis ans Herz hinan. Nur die sogenannten politischen Kreise im engeren Sinne, die diversen regierungsfähigen parlamentarischen Klüngel und deren Kundschaft, die berufsmäßigen Politiker und die Journalisten, betrachten eine Ministerkrise als ein Ereignis.

In den letzten Jahren ist jedoch – aus hier nicht zu erörternden Gründen – die Bedeutung der Ministerwechsel gestiegen. Der Fall des Ministeriums Leon Bourgeois (April 1896) bedeutete den Bankrott der radikalen Partei, eine Kapitulation der mittel- und kleinbürgerlichen Reformer vor der im Senat verkörperten Großbourgeoisie. Der Sturz des nachfolgenden Kabinetts Méline (Juni 1898) war der Ausdruck der Zertrümmerung des Ordnungskartells der Geldsackrepublikaner und der Klerikal-Monarchisten in den letzten Kammerwahlen. Und so kommt auch dem Sturz des Kabinetts Brisson[2] eine besondere Bedeutung zu, die aber nicht auf dem Gebiete der parlamentarischen Partei- und Programm-Kombinationen liegt.

Das allgemeine Programm des Kabinetts Brisson wird desto sicherer von der kommenden Regierung im wesentlichen wieder aufgenommen werden müssen, als es überhaupt das Mindestmaß des für eine ministerielle Deklaration unentbehrlichen Reformputzes darstellt. Auf die „Einigung der Republikaner“, d. h. auf die Verwischung aller Gegensätze zwischen den Radikalen und den Geldsackrepublikanern berechnet, enthält Brissons Programm keinen einzigen Punkt, den die Geldsackrepublikaner nicht unterschreiben könnten. Das Hauptstück des Brissonschen Programms, die Einkommensteuer-„Reform“, war sogar in den Hauptpunkten von einem Bourgeoisrepublikaner ausgeklügelt.

Hingegen stellt die Ministerkrise etwas in der gegebenen Situation viel Wichtigeres in Frage, nämlich das Verhältnis zwischen der gesetzlichen Regierung und dem diktatorischen

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[1] Der Artikel erschien anonym, stammt aber sehr wahrscheinlich von Rosa Luxemburg. Seit 25. September war sie Redakteurin der Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden). Der Artikel steht außerdem im Zusammenhang mit ihrem Beitrag „Murawjew in Paris“, S. 239 f.

[2] Die im Juni 1898 gebildete Regierung unter Eugène Henri Brisson war gezwungen, am 25. Oktober 1898 zurückzutreten, nachdem ein Vertrauensvotum für Brisson abgelehnt worden war. Brisson hatte den Vorwurf der Monarchisten und Militaristen, die Armee im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre nicht genügend vor Angriffen geschützt zu haben, zurückgewiesen. Siehe auch Rosa Luxemburg: Die Ministerkrise in Frankreich. In: GW, Bd. 6, S. 244.