Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 243

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militaristisch-chauvinistischen Form alle fortschrittlichen Elemente in die Defensive gedrängt hat.

Der Eisenbahnerstreik sollte im Geiste der Urheber das Vorspiel des Generalstreiks schlechthin sein. Einige Berufe waren in den Streik getreten ausdrücklich im Vertrauen auf den kommenden Eisenbahnerstreik. Desto notwendiger war die Wirkung des Mißerfolges des Eisenbahner-Vorstandes.

Im Ganzen genommen liegt jedoch kein Grund vor, einen dauernd ungünstigen Rückschlag für die gewerkschaftliche Bewegung zu befürchten. Die Eisenbahner-Organisation dürfte allerdings empfindlicher getroffen werden. Der Vorstand derselben hat soeben demissioniert mit einem Protest gegen die Nichtbefolgung ihrer eigenen Streikbeschlüsse durch die Lokalgruppen und zugleich beschlossen, nächstens einen außerordentlichen Kongreß einzuberufen. Erst auf diesem Kongreß werden sich die Folgen der gescheiterten Aktion klar zeigen.

Was die übrigen am Kampfe beteiligten Gewerkschaften betrifft, so haben sie die Erfahrung, daß eine größere Mobilmachung des Proletariats sich nicht improvisieren läßt, nicht zu teuer bezahlt. Die Kraftprobe des Massenstreiks dauerte nur zwei bis drei Wochen und sie hat zudem einen unmittelbaren Erfolg für die zahlreichere und bedürftigere Kategorie der Streikenden gebracht. Es ist nämlich nicht zu vergessen, daß der vollständige Sieg der Erdarbeiter erst durch das Eintreten der Bauarbeiter in den Kampf gesichert wurde. Die Regierung hätte nie und nimmer dem Ultimatum des Gemeinderates an die Unternehmer zugestimmt, wenn ihr der Massenstreik der Bauarbeiter nicht auf den Nägeln gebrannt hätte. Und auch einen weitreichenden, grundsätzlichen Erfolg hat die Bewegung angebahnt: die Einführung eines gesetzlich vorgeschriebenen Lohnminimums in den kommunalen und staatlichen Arbeiten. Für diese seit langen Jahren in der gewerkschaftlichen und politischen Bewegung aufgestellte Forderung hat der Pariser Streik die unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt bestmöglichen Aussichten geschaffen. Von positivem Nutzen muß ferner sein das erhebende Beispiel der Solidarität, wie sie von so zahlreichen Berufen ausgeübt wurde. Schließlich gehört zu den Lichtseiten der Bewegung die musterhafte Disziplin der Streikenden, einschließlich der raueren Schichten der unorganisierten Erdarbeiter, – was um so vielversprechender ist, als die militärische Besetzung der Hauptstadt nebst den provokatorischen polizeilichen Plackereien die Kaltblütigkeit der Arbeiter auf eine schwere Probe gestellt hat.

Es war ein tastender, unzeitiger und – soweit die Generalstreikpläne in Betracht kommen – aussichtsloser Versuch, der aber auf die Dauer belehrend und stärkend auf die gewerkschaftliche Entwicklung wirken muß.

Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),

Nr. 247 vom 23. Oktober 1898.

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