Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 621

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Das alte Problem

[1]

Der erste Parteitag der geeinigten Sozialistischen Partei Frankreichs, der vor wenigen Tagen stattgefunden hat,[2] ist vom Standpunkte der internationalen Arbeiterbewegung zweifellos ein hochbedeutsames Ereignis, und wäre nicht der überwältigende Eindruck der Nachrichten aus Rußland, die mit der Tagung in Chalon zusammenfielen, so hätte der französische Parteitag sicher viel mehr Beachtung der proletarischen Internationale gefunden, als dies der Fall gewesen.

Um die außerordentliche Tragweite der Aufgaben, die unseren französischen Freunden bevorstanden, zu begreifen, muß man sich kurz der Situation erinnern, in der der Parteitag in Chalon zusammentrat. Die verhängnisvolle Krise des Ministerialismus[3] war eben erst überwunden. Die sozialistische Einigkeit ist kaum vor sechs Monaten formell geschaffen, oder richtiger, beschlossen worden.[4] Sie wirklich zu schaffen, sie in die Tat umzusetzen, war das Bestreben der Partei im Laufe des letzten Halbjahres, und insofern es auf die rein organisatorische Einigkeit ankommt, können die französischen Genossen mit ihrem Werk gewiß zufrieden sein. Der Nationalrat der Partei war in der Lage, in seinem Bericht an den Parteitag festzustellen, daß von allen Föderationen, d. h. departementalen Verbänden, nur noch fünf außerhalb der Einigung stehen, in allen anderen sind die zersplitterten Fraktionen bereits zu kompaktem einheitlichen Ganzen zusammengeschmolzen, und ebenso bilden ihre Vertreter in der Kammer eine geschlossene sozialistische Fraktion aus 38 Abgeordneten, denen ein Dutzend „wilde“ Sozialisten entgegenstehen, die – ein trauriges Erbstück der mi-

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[1] Der Parteitag der Sozialistischenn Partei Frankreichs in Chalon fand vom 29. Oktober bis 1. November 1905 statt.

[2] Der Begriff des Ministerialismus bzw. Millerandismus entstand mit dem Eintritt des französischen Sozialisten Alexandre-Étienne Millerand als Handelsminister in das reaktionäre bürgerliche Kabinett Waldeck-Rousseau, dem er vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 angehörte. Dieser erste praktische Schritt mit sozialreformerischen Vorstellungen über Einflußmöglichkeiten in einer bürgerlichen Regierung führte sowohl in der französischen als auch in der internationalen Arbeiterbewegung zu heftigen Auseinandersetzungen, siehe dazu Rosa Luxemburg: Der Abschluß der sozialistischen Krise in Frankreich. In: GW, Bd. 1, 2. Halbbd. S. 160 ff.

[3] Die Einigung fand auf dem IV. Kongreß der Parti Socialiste de Français vom 23. bis 25. April 1905 in Paris statt.

[4] Der Internationale Sozialistenkongreß von Amsterdam 1904 hatte auf Empfehlung August Bebels die Resolution des Dresdener Parteitages der deutschen Sozialdemokratie von 1903 angenommen. In ihr wurden die revisionistischen Bestrebungen, die auf dem Klassenkampf beruhende Taktik der Partei in eine Politik der Zugeständnisse an die bestehende Ordnung aufzulösen, entschieden verurteilt.