Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 622

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nisterialistischen Anarchie – als die anziehende Verkörperung der „freien Meinungsäußerung“ – im Verrat der Arbeiterinteressen – und der „geistigen Unabhängigkeit“ – von der proletarischen Organisation, den wahren Geist der „Demokratie“ gegen den „Despotismus“ der Partei und ihrer Zentralleitung vertreten.

Allein die sozialistische Einigkeit ist in Frankreich, wie überall, nicht eine Frage der mechanischen Zusammenkoppelung verschiedener Fraktionen zu einer Organisation, sondern die einer einheitlichen lebendigen Bewegung, die das gesamte Proletariat in einem großen kräftigen Strom des Klassenkampfes mit fortreißt. Die Spaltungen innerhalb der Arbeiterbewegung sind stets bloß ein äußeres Symptom tiefliegender Erscheinungen des Klassenkampfes selbst, seiner Probleme, die meist mit allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen zusammenhängen, und es ist bloß eine übliche Verwechslung von Ursache und Wirkung, wenn man die Uneinigkeit unter den Sozialisten eines Landes, statt sie aus den Schwierigkeiten der allgemeinen Situation der Arbeiterbewegung zu erklären, vielmehr für diese verantwortlich macht und durch die persönliche „Aussöhnung“ der Führer zu beseitigen hofft. In derselben Zeit, wie nach dem gänzlichen Bankrott der Blockpolitik und des Ministerialismus unter dem Druck des Amsterdamer Kongresses[1] eine Einigung zwischen dem Anhang Jaurès’ und den alten Fraktionen des französischen Sozialismus endlich zustande gekommen war, tat sich die Kluft in der Arbeiterbewegung Frankreichs an einer anderen Stelle auf: zwischen der ganzen geeinigten sozialistischen Partei und der Masse der halb-anarchistischen Gewerkschafter.

Diese Erscheinung, dieses Aufleben des antiparlamentarischen „Syndikalismus“ in der jüngsten Zeit, dem in Frankreich wohlgemerkt eine ganz andere Einschätzung zukommt als der kümmerlichen Episode des „anarcho-sozialistischen“ Wirrwarrs in Deutschland,[2] zeigt allein, daß das eigentliche Problem der Einigkeit in Frankreich viel tiefer liegt als bloß in der früheren Kontroverse Guesde-Vaillants mit Jaurès. Und wenn andererseits die von der geeinigten Partei präsentierten Ziffern in bezug auf die Organisationsstärke – nahezu 40000 zahlende Mitglieder in ca. 2000 lokalen Vereinen – für französische Verhältnisse einen ganz achtunggebietenden festen Kern der sozialistischen Bewegung darstellen, so weisen auch diese Ziffern zugleich auf dasselbe dringende Problem hin, das vor dem französischen Sozialismus steht. Vereinigung der sozialistischen Avantgarde mit der breiten Arbeitermasse in einer lebendigen Bewegung, dies ist gegenwärtig die eigentliche Aufgabe des Sozialismus in Frankreich überhaupt wie der Einigkeit im Besonderen, die naturgemäß dem ersten allgemeinen Parteitag zufallen mußte.

Der „Syndikalismus“, die französische anarchistelnde Gewerkschafterei, ist keine neue Erscheinung in der Arbeiterbewegung Frankreichs. Sie ist vielmehr nur ein Wie-

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[1] Der Internationale Sozialistenkongreß von Amsterdam 1904 hatte auf Empfehlung August Bebels die Resolution des Dresdener Parteitages der deutschen Sozialdemokratie von 1903 angenommen. In ihr wurden die revisionistischen Bestrebungen, die auf dem Klassenkampf beruhende Taktik der Partei in eine Politik der Zugeständnisse an die bestehende Ordnung aufzulösen, entschieden verurteilt.

[2] Gemeint sind die „Jungen“, eine linkssektiererische Gruppe in der deutschen Sozialdemokratie, die sich gegen die allseitige Ausnutzung der legalen Möglichkeiten für die Tätigkeit der Partei gewandt hatte und eine revolutionäre Parlamentstaktik verneinte. Ihre sektiererische Verschwörertaktik wurde auf dem Parteitag in Halle 1890 einmütig zurückgewiesen und die Wortführer auf dem Parteitag in Erfurt 1891 aus der Partei ausgeschlossen. Mit ihrer neuen Organisation, dem Verein Unabhängiger Sozialisten, blieben sie von der Arbeiterklasse isoliert.