Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 623

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deraufleben alter Traditionen, der hergebrachten tiefen Abneigung des französischen Proletariats gegen die „Politik“, Traditionen, die bereits von den ersten bürgerlichen Revolutionen her datieren. Den Schlüssel zum Verständnis der eigenartigen Schicksale des französischen Sozialismus, wie überhaupt der inneren politischen Geschichte Frankreichs im letzten Jahrhundert, bildet das Kleinbürgertum und seine hervorragende Rolle. Seit der großen Revolution stets unter der politischen und geistigen Leitung des Kleinbürgertums, keinen Klassenkampf führend, trennt sich das französische Proletariat von ihm zum ersten Mal in den Junitagen des Jahres 1848.[1] Die furchtbare Schlächterei war die Bluttaufe der politischen Selbständigkeit der französischen Arbeiterklasse, ihrer Befreiung von der Vormundschaft des Kleinbürgertums.

Allein es war dies erst eine Scheidung auf der Straße. Nach der Niederwerfung der Kommune[2] eröffnet die dritte Republik eine Periode der parlamentarischen Herrschaft der Bourgeoisie und damit eröffnet sie zugleich eine neue politische Laufbahn für das französische Kleinbürgertum. Und wenn es ein unsterbliches Verdienst Guesdes und Vaillants ist, in den 80er Jahren die französische Arbeiterschaft von ihrer Abneigung gegen die „Politik“ und zu der Auffassung gebracht zu haben, daß es neben und entgegen einer bürgerlichen Politik eine proletarische Politik geben könne und müsse, so wiederholte sich bald das alte Verhängnis des französischen Sozialismus: Mit dem Ende der 90er Jahre verfiel die proletarische Politik in der Form des Parlamentarismus wieder unter den erdrückenden Einfluß des Kleinbürgertums. Der Zusammenbruch des kleinbürgerlichen Radikalismus in der Dreyfus-Krise[3], in der die Masse der Kleinbürger mit fliegenden Fahnen ins Lager der nationalistischen Reaktion hineinschwenkte, hat den ganzen bankrotten Generalstab der kleinbürgerlichen Intelligenz dem proletarisch-sozialistischen Lager zugeführt und hier die langwierige Krise des Ministerialismus hervorgerufen. Aber darauf mußte naturgemäß ein zweiter starker Rückschlag, eine erneute Abneigung der großen Masse der Arbeiter gegen die „Politik“, speziell gegen den Parlamentarismus folgen. Drehte sich doch das ganze politische Leben Frankreichs unter der Herrschaft des „republikanisch-sozialistischen Blocs“, also seit fünf Jahren fast ausschließlich um ein Paradestück des alten kleinbürgerlichen radikalen Programms: um die hohle Nuß der Trennung der Kirche vom Staate.

Daß ein so von der wirklichen Arbeiterpolitik, von einer proletarischen Klassenpolitik gänzlich abgekommener Parlamentarismus eine Kluft zwischen dem Sozialismus und der Masse der Proletarier erzeugen mußte, ist klar. Und daraus geht auch klar hervor, nach welcher Richtung die geeinigte französische Partei nunmehr ihre Umgestaltung vornehmen muß, wenn die fatalen Nachwehen der letzten großen Krise in der Tat überwunden werden sollen. Eine durchgreifende Reform der gesamten parlamentarischen Taktik und des politischen Lebens der Partei, wobei die wirklichen Ar-

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[1] Im Juni 1848 hatte sich das Pariser Proletariat gegen die französische Bourgeoisie erhoben, weil sie die Nationalwerkstätten schließen ließ. Etwa 113000 Arbeiter waren dadurch ohne Arbeit und Einkommen. Bourgeois, Kleinbürger und Monarchisten waren gegen den Aufstand vorgegangen, der nach drei Tagen von der militärischen Übermacht blutig niedergeschlagen wurde.

[2] Die Pariser „Blutwoche“ vom 21. bis 28. Mai 1871 führte zur konterrevolutionären Niederschlagung der Pariser Kommune, die am 18. März begonnen hatte. Beim brutalen Vorgehen der Versailler Regierungstruppen, verstärkt durch vorzeitig aus deutscher Kriegsgefangenschaft entlassene Truppen und begünstigt durch die im Raum Paris stationierten deutschen Armeekorps, wurden etwa 30000 Kommunarden getötet und etwa 85000 verhaftet, deportiert und zu Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen verurteilt.

[3] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.