1904
Verteidigungsrede und Schlußwort am 17. Januar 1904 vor dem Landgericht Zwickau
[1]Nach einem Zeitungsbericht
In der Verhandlung gab Gen. Luxemburg eine ganz andere Darstellung der Sache. Sie stellte fest und bewies, daß sie vor allem in jener Versammlung weder über Kolonial- noch Weltpolitik, noch über Militarismus und soziale Gesetzgebung gesprochen habe, was auch in den 15 bis 20 Minuten, die ihr vor der Wortentziehung zur Verfügung standen, gar nicht denkbar gewesen wäre. Sie konnte deshalb unmöglich dem Kaiser eine allgemeine Unkenntnis der Verhältnisse in Deutschland zugeschrieben haben. Was sie in Wirklichkeit darlegte, waren lediglich die wirtschaftlichen Folgen des neuen Zolltarifs für die arbeitende Bevölkerung Deutschlands, die sie an der Hand zahlenmäßiger Beweise eingehend schilderte.[2] Unmittelbar darauf zog sie die Worte des Kaisers in Breslau von der „guten und gesicherten Existenz der deutschen Arbeiter“ heran[3] und sagte, dies sei ein völlig unzutreffendes Urteil. Einem solchen könnte nur beistimmen, wer etwa in Japan oder China seine Ansichten über die Existenz der Arbeiter gebildet habe. Die Erwähnung von Japan oder China hätte demnach nicht den Zweck, dem deutschen Kaiser die weltfremde Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland zu imputieren, sondern den falschen Maßstab des kaiserlichen Urteils über die Lage der deutschen Arbeiter drastisch zum Ausdruck zu bringen. Vom Standpunkte eines wirtschaftlich noch viel tiefer stehenden Arbeiters könne allerdings die Existenz des deutschen Arbeiters als eine „gute und gesicherte“ erscheinen, und wenn man ein Land mit noch viel rückständigeren Arbeiterverhält
[1] Überschrift der Redaktion. Der „Majestätsbeleidigungs“prozeß richtete sich gegen eine Äußerung Rosa Luxemburgs in einer Wählerversammlung im 17. sächsischen Reichstagswahlkreis am 7. Juni 1903, in der sie in Mülsen-St. Micheln zur Breslauer Kaiserrede vom 5. Dezember 1902 gesagt haben soll: „Der Mann, der von der guten und gesicherten Existenz der deutschen Arbeiter spricht, habe keine…“ Nach den Akten des sächsichen Justizministeriums im HSTA Dresden, Nr. 751/14, Bl. 43 ff. hatte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Zwickau in Rosa Luxemburgs Worten zunächst keine Majestätsbeleidigung erblickt. Das Königlich Sächsische Ministerium des Innern dagegen erachtete im Schreiben vom 22. Juni 1903 an das Justizministerium „die Äußerung als eine gewollte Verhöhnung des Kaisers und eine beabsichtigte Herabsetzung seines Ansehens“. Daraufhin wies das Justizministerium die Staatsanwaltschaft des Landgerichts Zwickau an, gegen Rosa Luxemburg wegen Vergehens gegen § 95 des Bürgerlichen Gesetzbuches das Ermittlungsverfahren einzuleiten und die öffentliche Klage zu erheben.
[2] Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die Erhöhung der Getreide- und Fleischzölle eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes und eines neuen Zolltarifs bekannt geworden waren. Danach sollten enorme Erhöhungen der Agrar- und einiger Industriezölle erfolgen, die für die Mehrheit der Bevölkerung auf eine wesentliche Verschlechterung der Lebenslage hinausliefen. – Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. 3,5 Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber der Vorlage des Bundesrates zur Erhöhung der Getreidezölle begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion kämpfte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 mal das Wort. Zollgesetz und Zolltarif wurden am 14. Dezember 1902 mit 202 gegen 100 Stimmen gebilligt und traten ab 1. März 1906 in Kraft.
[3] Siehe S. 482, Fußnote 5.