Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 559

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Rede in einer Volksversammlung am 20. September 1905 in Essen

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Nach einem Zeitungsbericht

Genossinnen und Genossen! Wenige Tage trennen uns noch von dem Moment, wo die Wähler des hiesigen Wahlkreises an die Urne treten, um zum zweiten Male ihre Stimme abzugeben. Diese Wahl ist nicht allein eine lokale oder örtliche Angelegenheit; nein, ganz Deutschland schaut unverwandt nach dem Essener Wahlkreise. Vor 1887 bestand in Deutschland die dreijährige Legislaturperiode, aber nach den Kartellwahlen von 1887,[2] wo die reaktionären Parteien geschlossen gegen die Sozialde-

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[1] Überschrift der Redaktion. Zur Versammlung im „Kaisersaal“ von Altenessen fanden sich ca. 3000 Personen ein. Rosa Luxemburg übernahm das Referat für den angekündigten August Bebel, der plötzlich erkrankt war. Nach ihr sprach Wilhelm Gewehr (1858–1913), der Kandidat für die Stichwahlen. Der Saal war überfüllt. Hunderte mußten sich mit einem Platz im Hof begnügen, ebenso viele mußten wegen Überfüllung umkehren. Rosa Luxemburg, „eine kleine, zierliche, durchaus sympathische Erscheinung“, wie es im Zeitungsbericht hieß, „wurde mit lebhaftem Beifall empfangen“. Rosa Luxemburg versuchte, Leo Jogiches am 29. September 1905 ein Bild über die Anstrengung und den Erfolg ihrer Versammlungstour nach dem Jenaer Parteitag zu geben: „Ich bin erst gestern abend zurückgekehrt – aus Essen (Stichwahl), wo ich binnen drei Tagen sechs Versammlungen hatte, davon drei Großveranstaltungen (je 2000–3000), drei für Bebel, der erkrankt ist, drei für mich. Es ging ausgezeichnet, aber Du kannst Dir vorstellen, wie ich die ganze Zeit in der Mühle war […]. Ich weiß selbst nicht, wie ich das alles geschafft habe: Erst bin ich wie eine Leiche nach Jena gefahren, war dort eine Woche hindurch die ganze Zeit auf den Beinen, ohne eine Sitzung für einen Moment zu verlassen, dreimal sprechen (und eine Wortmeldung persönlich), dann direkt nach Berlin, […] am Montag früh um 8 Uhr nach Essen (neun Stunden Fahrt), abends zwei Versammlungen (von der einen zur anderen mit der Droschke, denn auf dem Bahnhof und in der ganzen Stadt waren die hier beigelegten Plakate ausgeklebt), das gleiche am Dienstag und Mittwoch, tagsüber mußte ich mich noch ein wenig vorbereiten, denn es mußten immer wieder neue Angriffe des Zentrums zurückgewiesen werden (am Mittwoch ging ich 1 ½ Uhr schlafen), am Donnerstag früh um 7 Uhr aufstehen und wieder neun Stunden Fahrt nach Berlin. Trotzdem habe ich mich tapfer geschlagen und bin zehnmal frischer zurückgekehrt, als ich nach Jena gefahren bin (NB, diese Agitation hat mir bei den Alten [August Bebel, Karl Kautsky und anderen Parteivorstandsmitgliedern] usw. sehr genutzt.“ Er möge sich die Hast vorstellen. „Die ganze Zeit wußte ich nicht, auf welcher Welt ich bin, und ich war, täglich in Gedanken bei Dir, nicht in der Lage, mir vorzustellen, wo Du eigentlich bist.“ GB, Bd. 2, S. 175 f.

[2] Wilhelm I. hatte am 14. Januar 1887 den Reichstag aufgelöst, weil dieser die Militärvorlage der Bismarck-Regierung abgelehnt hatte. Zur Unterstützung der Regierung bildeten die Konservative Partei, die Freikonservativen und die Nationalliberalen ein Wahlkartell. Die Wahlen zum Reichstag fanden am 21. Februar 1887 statt. Trotz des Wahlterrors errang die deutsche Sozialdemokratie 763 128 Stimmen, das entsprach 10,1 Prozent der Wählerstimmen. Dennoch sank durch die reaktionäre Wahlkreiseinteilung und die von den Kartellparteien befolgte Stichwahltaktik die Zahl der sozialdemokratischen Mandate gegenüber den letzten Wahlen von 24 auf 11. Der neue Reichstag bewilligte gegen die Stimmen der Sozialdemokraten die Militärvorlage am 11. März 1887.