Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 658

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Die Revolution in Rußland

[1]

Der Aufruhr in der Marine

In Kronstadt wütet der Kampf in gewaltigen Dimensionen. Die Depeschen melden:

Petersburg, 10. November. Die 14. Flottenequipage, welche im Zentrum von Kronstadt garnisoniert, meuterte und demolierte alles in ihrer Kaserne. Das 4. Ulanenregiment, welches in Kronstadt landete, wurde sofort mit aufgepflanztem Bajonett empfangen: Die meisten Truppen schließen sich den Revolutionären an, auch die Marineinfanterie meuterte. Ohne Veranlassung wurde auf Soldaten und Zivilpersonen von den aufrührerischen Truppen geschossen. Die Zahl der Opfer ist noch nicht bekannt. Fast sämtliche Läden sind geplündert und in Brand gesteckt worden.

Paris, 10. November. Wie der Petersburger Korrespondent des „Matin“ in später Nachtstunde depeschiert, haben Matrosen eines der Kriegsschiffe von Kronstadt die am Strande aufgestellten Kosaken bombardiert. Auch mehrere Forts schießen aufs Geratewohl und man vermutet, daß sie sich ebenfalls den Meuterern angeschlossen haben.

Paris, 10. November. Aus Petersburg meldet der „Petit Parisien“, die Nachrichten aus Kronstadt rufen hier die größte Aufregung hervor. Das Peterhofer Dragonerregiment, welches zu den Elitetruppen gehört, ergab sich ohne Kampf den Aufrührern. Das Lanzenreiterregiment ist in einem furchtbaren Kampfe fast gänzlich aufgerieben worden.

Petersburg, 10. November. In Kronstadt sind insgesamt 25000 Mann Militär in Aufruhr. Man befürchtet, daß es den Meuterern gelingt, sich eines der Kriegsschiffe im Hafen zu bemächtigen und alsdann Peterhof bombardiert wird.

Paris, 10. November. Aus Kronstadt meldet der „Matin“: Nachmittags 5 Uhr stand bereits die Hälfte der Stadt in Flammen; alle Hilfe war unmöglich. Der Zar hatte selber den Befehl gegeben, den Aufruhr unbarmherzig niederzuschlagen. Man befürchtet, daß die Feuersbrunst sich auch auf das Zeughaus ausdehnt, wo große Mengen Munition lagern, so daß eine furchtbare Explosion die Folge wäre. Aus Petersburg sind alle verfügbaren Truppen nach Kronstadt entsandt worden.

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235.