Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 590

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Die Revolution in Rußland

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Bisher ist es zu der von vielen Seiten erwarteten Explosion in den Hauptstädten noch nicht gekommen. In einigen Städten wurden die Straßenkämpfe augenscheinlich nur dadurch verhindert, daß die Polizei und die Militärbehörden sich den Bedingungen der Volksmassen fügten, die Verhafteten auf freien Fuß setzten und den Demonstranten die Herrschaft über die Straße völlig überließen. Ob diese Nachgiebigkeit die Ohnmacht der Gewalt verrieten, ob man der Polizei und der Truppen nicht sicher war oder ob man sich nur ungewohnte Zurückhaltung auferlegte, weil man glaubt, daß der Hunger die Streikenden schließlich doch wieder in die Fabriken treiben wird, ist nicht ersichtlich. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß die etwaige Rechnung auf den durch Hunger erzwungenen Zusammenbruch der Bewegung eine irrige sein wird. Die Krise ist noch keineswegs vorüber, sondern tritt täglich in ein akuteres Stadium. Der Generalstreik währt nicht nur überall fort, sondern er gewinnt noch fortgesetzt an Ausdehnung. So streiken jetzt z. B. in Łódź und im Łódźer Bezirk über 100000 Arbeiter. Von welchem Geiste die Arbeiter beseelt sind, beweist nicht nur ihr heroisches Ausharren im Ausstande, sondern auch der Inhalt ihrer Proklamation, der Beifall, mit dem sie revolutionäre Ansprachen aufnehmen. Breite Schichten der Intelligenz und des Bürgertums werden durch das imponierende Vorgehen der Arbeiter zu gleicher revolutionärer Entschlossenheit fortgerissen. So ist es äußerst wahrscheinlich, daß, wenn die zaristischen Mandatare sich nicht noch in letzter Stunde zu weitgehendsten Zugeständnissen entschließen, schwere Straßen-

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235.