Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 591

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kämpfe zu erwarten sind. Es scheint aber begründete Ursache zu der Annahme vorhanden zu sein, daß bei solchen Zusammenstößen auf die bewaffnete Macht nicht allzu fester Verlaß sein wird. In Łódź sollen hundert Soldaten verhaftet worden sein, weil sie sich weigerten, auf die Demonstranten zu schießen. Ähnliches wird auch aus anderen Orten berichtet. Und nicht nur die Söhne des arbeitenden Volkes scheinen zum Bewußtsein der schmachvollen Rolle gekommen zu sein, die ihnen zugemutet wird, auch viele Offiziere sollen sich an der revolutionären Propaganda beteiligen.

So berichtet eine russische Korrespondenz über folgende Flugschrift der revolutionären Offiziere.

„Kameraden! Wir erleben einen schweren und ernsten Moment der inneren Politik unseres Vaterlandes. Bei einer solchen Reihe von einschneidenden Ereignissen, die mit Windeseile an uns vorüber fliegen und alle Schichten unserer Gesellschaft von den tiefsten Tiefen bis zu den höchsten Höhen erfassen, abseits als kaltblütiger und teilnahmsloser Zuschauer zu stehen, ist zum mindesten unehrlich. Eine jede Gesellschaftsklasse unseres Vaterlandes hat ihre Vertreter gestellt, gab Kämpfer für die gemeinsame, heilige, teure und jetzt unaufhaltbare Sache, die der Befreiung unseres Vaterlandes und des Volkes von der tatarisch-türkischen Willkür der sittenlosen, überladenen, hyperdiebischen, geistig und moralisch abgestumpften Tschinowniks [Beamten/Bürokraten] jeden Ranges und jeder Stellung, von dem Feldwebel – dem Säufer, Dieb und Soldatenräuber in der Kompanie – bis zum Intendanturgeneral, von dem Wachtmeister, der ‚Kleinigkeiten‘ für unerlaubte ‚Bemühungen‘ nimmt, bis zum Polizeigewaltigen, dem ‚Aufmerksamkeiten‘ je nach dem Rang erwiesen werden, von dem Popen, der die Bauern beraubt, bis zu der Kreatur, die die Christenlehre in Rußland verdreht und 130 Millionen Menschen religiös und sittlich märtyrt und dessen Name Pobedonoszew ist. … Und was geschieht jetzt im heiligen Rußland? Überall wird Bruderblut vergossen! Ganz Europa erbebt unter dem Eindruck der unerhörten Bestialitäten. Und wir, Vertreter der wohl organisierten ungeheuren Macht, wir schlafen immer noch in unserem mit einer Kruste bedeckten Sumpf der Kasteninteressen, kleinlichen dienstlichen Intrigen, Liebesabenteuer, Restaurationsauftritte, Widerwärtigkeiten ‚einer kleinen Garnison‘! Kameraden! Wir spielen eine abscheuliche, unwürdige Rolle. Wir, die wir auf unsere Offiziersehre so stolz sind, wir, die wir an der Spitze der bewaffneten Macht des Landes stehen, das uns den Schutz der Unantastbarkeit des Reichsterritoriums, die moralischen und materiellen Interessen der Nation anvertraut hat, wir, die wir in unserem Beruf die Fahne der ritterlichen Tugenden, Schutz dem Schwachen, Unterstützung der Gesetzlichkeit, des Rechts und der Gerechtigkeit im Lande selbst hochhalten sollen, was sind wir jetzt? Wohin sind wir in der letzten Zeit durch unsere gänzlich zerrüttete Regierung gebracht worden, die nur noch aus einem Häuflein der infolge unserer unverständigen Unterstützung allmächtiger Kreaturen, Höflinge, Hintermauerritter und einem Polizisten, mit dem Stock in der Hand und der Nagaika [Knüttel] im Stiefelschaft, an der Spitze, besteht. Und einer solchen Regierung sollen wir dienen? Einer Regierung, die bankrott und auf allen Positionen der inneren und äußeren Politik geschlagen ist, einer Regierung, die

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