Schillerfeier und Sozialdemokratie
[1]Schillers Dichtung ist nicht bloß zum ehernen Bestandteil der deutschen klassischen Literatur, sondern auch zum geistigen Hausschatz speziell des aufgeklärten, kämpfenden Proletariats geworden, die Worte und Sprüche, die er geprägt, wurden zur Form, in der die deutsche Arbeiterschaft mit Vorliebe ihre revolutionären Gedanken und ihren Idealismus zum schwungvollen Ausdruck bringt. Die Verbreitung der Schillerschen Poesie in den proletarischen Schichten Deutschlands hat zweifellos zu ihrer geistigen Hebung und auch zur Revolutionierung beigetragen, insofern also gewissermaßen ihr Teil an dem Emanzipationswerk der Arbeiterklasse gehabt.
Allein es unterliegt keinem Zweifel, daß Schillers Rolle in dem geistigen Wachstum des revolutionären Proletariats in Deutschland nicht sowohl darin wurzelt, was Schiller mit dem Gehalt seiner Dichtungen in den Emanzipationskampf der Arbeiterschaft hineintrug, als umgekehrt darin, was die revolutionäre Arbeiterschaft aus eigener Weltanschauung, aus eigenem Streben und Empfinden in die Schillerschen Dichtungen hineinlegte. Es hat hier ein eigenartiger Assimilierungsprozeß stattgefunden, in dem sich das Arbeiterpublikum nicht den Schiller als ein geistiges Ganzes, so wie er in Wirklichkeit war, aneignete, sondern sein geistiges Werk zerpflückte und es unbewußt in der eigenen revolutionären Gedanken- und Empfindungswelt umschmolz.
Doch über diese Phase des politischen Wachstums, wo die gärende Begeisterung, das halbdunkle Streben zu den lichten Höhen des „Idealen“ den Anbruch der geistigen Wiedergeburt der deutschen Arbeiterschaft ankündigte, sind wir beträchtlich hinaus. Was die Arbeiterschaft heute vor allem braucht, ist: Alle Erscheinungen der politischen und auch der ästhetischen Kultur in ihren klaren, streng objektiven historisch-sozialen Zusammenhängen, als Glieder jener allgemeinen sozialen Entwicklung aufzufassen, deren mächtigste Triebfeder heutzutage ihr eigener revolutionärer Klassenkampf ist. Auch Schiller kann und muß die deutsche Arbeiterschaft heute ganz wissenschaftlich-objektiv als einer mächtigen Erscheinung der bürgerlichen Kultur gegenüberstehen, statt in ihm subjektiv aufzugehen oder richtiger ihn in eigener Weltanschauung aufzulösen.
Rosa Luxemburg
Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),
Nr. 105 vom 9. Mai 1905.
[1] Unter dieser Überschrift der Redaktion der Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden) erschienen neben Rosa Luxemburgs Beitrag Artikel von Eduard Bernstein, Kurt Eisner, Karl Kautsky, Franz Mehring und Hermann Molkenbuhr.