Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 546

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Streikrevolution in Łódź

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Über die Ereignisse in Łódź am 20. und 21. erhalten wir folgende Mitteilungen: Łódź, 20. Juni. (Eig. Ber.) Heute um 6 Uhr nachmittags begann eine gewaltige Demonstration, die fast bis 9½ Uhr abends dauerte.

Die sozialdemokratische Arbeiterschaft von Łódź geleitete die am letzten Sonntag gefallenen Opfer der Zarenschergen zur Ruhe. Am Sonntag, dem 18., hatten die Sozialdemokraten einen sogenannten Mai-Ausflug arrangiert (d. h. eine in Russisch-Polen übliche Form der Massenversammlung im Freien, außerhalb der Stadt), der in dem Lagiewniker Forst stattfand und wo vor der versammelten Arbeitermenge mehrere Agitationsreden gehalten wurden. Nach Schluß der Versammlung ging die sozialdemokratische Arbeiterschaft mit entfalteten Parteifahnen bis zum Zgierski-Forst, hier, auf halbem Wege vor der Stadt, wurden die Fahnen zusammengerollt, und der Massenzug kehrte in kleineren Gruppen in die Stadt zurück. Eine Gruppe ging mit entfalteter Fahne bis in die Stadt hinein. Hier, an der Ecke der Lagiewniker- und der Müllerstraße, in dem Stadtviertel Baluty, wurden die Genossen von einer Kosakenpatrouille attackiert, wobei zehn Personen getötet, mehrere verwundet wurden, darunter ein zweijähriges Kind! Der Vorfall rief in der Arbeiterschaft eine ungeheure Erregung hervor. Die Sozialdemokratie beschloß sofort, ein demonstratives Begräbnis zu arrangieren, als politischen Protest, und begann gleich eine energische Agitation in den Fabriken. In Warschau und in Łódź wird jetzt die Agitation ganz offen in den Fabrikhöfen betrieben, wo beim Erscheinen sozialdemokratischer Redner der Betrieb eingestellt und die Arbeiterschaft im Hofe versammelt wird. Solche „Fabrikversammlungen“, an denen Hunderte und Tausende teilnehmen, finden jetzt täglich statt – bald in der einen, bald in der anderen Fabrik, so daß die Polizei den Kampf dagegen ganz aufgegeben hat, die Fabrikanten aber lassen gewähren aus Furcht vor der Arbeiterschaft.

Schon am Mittag des 20. blieb ein Teil der Fabriken stehen, der Rest im Laufe des Nachmittags. Die Arbeiterschaft strömte zusammen auf dem Kirchplatz. Auch das Militär besetzte dicht die Straßen, doch schritt es nicht ein. Die größte Schwierigkeit

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[1] Dieser Bericht ist nicht gezeichnet. Nach Rosa Luxemburgs Brief an Leo Jogiches vom 25. oder 26. Juni 1905 sorgte sie für die Veröffentlichung von Korrespondenzen bzw. Informationen über die Ereignisse in Łódź, siehe GB, Bd. 2, S. 141. Die Korrespondenz von Kazimierz Gierdawa vom 20. Juni wurde auch in „Z pola walki“ Nr. 10 vom 30. Juni 1905 unter dem Titel „Der Kampf auf den Barrikaden in Łódź“ abgedruckt. Siehe RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), Nr. 347.