Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 183

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/183

Erörterungen über die Taktik

[1]

[13 Folgen]

I

Im „Vorwärts“ veröffentlicht Genosse Ed[uard]Bernstein einen Artikel über die „Eroberung der politischen Macht“, worin er seine Ansichten gegen die auf dem Parteitag in Stuttgart[2] gemachten Angriffe verteidigt. Er beklagt zunächst die in jeder politischen Diskussion gewöhnlich vorkommende verschiedene Auffassung der bestrittenen Begriffe seitens der Streitenden, die statt Klärung der Frage nur Mißverständnisse hervorrufe. „Das ist auch der Fall“, sagt er, „in den Diskussionen über die Frage der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse. Es gibt Leute, für die dies Wort ausschließlich den Sinn hat, daß die Arbeiterklasse regierende Klasse wird, auf irgendeine Weise Regierungsgewalt ausübt. Offenbar schließt das Wort diese Deutung ein, aber sein Begriff wird durch sie nicht erschöpft. Will man die so verstandene Frage erörtern, so ist es besser, von politischer Herrschaft zu sprechen, statt von politischer Macht. Denn der Begriff der politischen Macht ist ein sehr viel weiterer. Macht kann eine Partei oder Klasse auch ausüben, ohne an der Herrschaft zu sein. Die Arbeiterklasse und die sie vertretende Partei, die Sozialdemokratie, ist in Deutschland schon heute eine große politische Macht, ohne an der Herrschaft zu sein. Sie ist es direkt, durch ihre Verbindung in den gesetzgebenden und verwaltenden Körpern. Sie ist es indirekt durch die gewerblichen Organisationen der Arbeiter, durch die Stärke des sozialistischen Bewußtseins in den Massen, durch den

Nächste Seite »



[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, aber sicher von Rosa Luxemburg. Sie war vom 25. September bis 2. November 1898 die leitende Redakteurin der Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden). Sie übernahm diese Aufgabe auf Bitten aus Dresden, weil Alexander L. Helphand (Parvus) und Julian Marchlewski als Ausländer wegen politischer Tätigkeit aus Sachsen ausgewiesen worden waren. Im Unterschied zu August Bebel und Karl Kautsky war sie auch nach dem Stuttgarter Parteitag für die Fortsetzung der Debatte über die umstrittenen Auffassungen von Eduard Bernstein u. a. Revisionisten. Siehe ihre Parteitagsreden und ihre „Nachbetrachtungen zum Parteitag“. In: GW, Bd. 1, 1. Halbbd., S 236 ff. Sie richtete dafür ab 16. Oktober 1898 in der Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden) die spezielle Rubrik „Erörterungen über die Taktik“ ein, in der sie vom 16. Oktober bis 3. November 1898 in 13 Folgen eigene Auffassungen, Stellungnahmen anderer Sozialdemokraten bzw. Resolutionen von Parteiorganisationen veröffentlichte. Siehe ihre Briefe an August Bebel vom 31. Oktober und 7. November 1898. In: GB, Bd. 1, S. 210 ff. – Siehe auch ihre Erklärung vom 3. November 1898, S. 247 f. Die bisherige Beschränkung der „Erörterungen über die Taktik“ auf nur zwei Folgen und die Polemik gegen Georg Gradnauer in den GW, Bd. 1, 1. Halbbd. S. 257 ff. entspricht nicht mehr dem Forschungsstand. Für das Verständnis des Zusammenhangs und des Anliegens Rosa Luxemburgs mit dieser Rubrik werden die beiden Folgen aus GW, Bd. 1 noch einmal mit abgedruckt.

[2] Der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands fand vom 3. bis 8. Oktober 1898 in Stuttgart statt.