Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 184

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politischen Zusammenhang und Zusammenhalt dieser Massen, ihre Energie und Aktionsbereitschaft. Die Macht, welche die Sozialdemokratie heute auszuüben imstande ist, und, genauer zugesehen, indirekt auch schon in hohem Grade ausübt, ist unvergleichlich größer als die Macht, die sie in den gesetzgebenden Körpern direkt darstellt. Darüber kann gar kein Streit bestehen. Nur darüber kann man streiten, ob die in der Sozialdemokratie ruhende potentielle Kraft auch schon groß genug ist, sie zur Übernahme und zielführenden Ausübung der politischen Herrschaft zu befähigen. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, unter welchen Umständen die Erlangung der politischen Herrschaft durch die Sozialdemokratie heute in Deutschland denkbar ist und vor welchen Aufgaben die Partei sich in solchem Falle gestellt sähe. Meine Ansichten über diesen Punkt sind bekannt, und ich komme daher nicht weiter auf ihn zurück. Bleiben wir vielmehr bei der allseitig unbestrittenen Frage, nämlich dem Mißverhältnis zwischen der politischen Macht, über welche die Sozialdemokratie heute in Deutschland rechtlich verfügt, und der Kraft, welche sie nach der Zahl und Regsamkeit ihrer Anhänger im Volkskörper tatsächlich darstellt. Jede Klasse oder Partei hat das natürliche Bestreben, ihre politischen Rechte in Einklang zu bringen mit der potentiellen Macht, über die sie gebietet, oder, was dasselbe ist, ihre politische Macht ihrer sozialen Bedeutung anzupassen.

Sie kann das auf verschiedenem Wege erreichen, je nach den politischen Einrichtungen, der Gruppierung der anderen Parteien und ihren Beziehungen zueinander, und neben allerhand anderem, auch der internationalen Lage des betreffenden Landes. Mit den Umständen ändert sich naturgemäß die Kampfart. Daß die deutsche Sozialdemokratie sich in dieser Hinsicht auf einen bestimmten Weg festlegen solle – welcher Mensch mit gesunden Sinnen wird ihr das zumuten?“[1]

Im weiteren bestreitet er, als habe er dogmatisch die Möglichkeit politischer Katastrophen verneint. Er habe sich nur „gegen eine ganz bestimmte Katastrophentheorie gewendet: gegen die Auffassung, daß der Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft und eine aus ihm sich ergebende allgemeine große Katastrophe nahe bevorsteht“. Andere Katastrophen hält Bernstein für möglich, und er gibt auch zu, daß die Sozialdemokratie eine eventuelle Katastrophe unbedingt zur Förderung ihrer Bestrebungen ausnützen müßte. Er bestreitet aber, daß auswärtige Katastrophen auf die inneren Zustände Deutschlands einen großen Einfluß ausüben könnten. „Wir leben in der Ära der Zugeständnisse und der Lokalisierungspolitik“, sagt er, „und wenn nicht alles täuscht, so wird in Europa wenigstens diese Ära so bald kein Ende nehmen“. Andererseits befürchtet Bernstein, daß politische Katastrophen der Sozialdemokratie auch mehr schaden als nützen könnten, eine solche Wirkung würde nach ihm eine größere Katastrophe in Italien haben, ebenso schwierig würde die Lage der Sozialdemokratie bei einer Katastrophe in Österreich sein. Er befürwortet im weite

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[1] Eduard Bernstein: Eroberung der politischen Macht. In: Vorwärts, Nr. 240 vom 13. Oktober 1898.