Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 185

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ren die „kluge Ausnützung von Vorgängen, die für den wirtschaftlichen Kampf der Arbeiter untergeordnet erscheinen“, und beruft sich dabei auf das Beispiel der österreichischen und belgischen Sozialdemokratie. Der Artikel schließt mit dem folgenden Absatz:

„Die Vorstellung von einem nahe bevorstehenden Zusammenbruch der ganzen bürgerlichen Gesellschaft birgt die Gefahr in sich, daß doch nicht alles getan wird, diejenigen Etappen zu nehmen, die jedenfalls auf dem Wege zum Ziele liegen. Es ließe sich dies an einer ganzen Reihe Beispiele aus der Geschichte der Arbeiterbewegung aller Länder nachweisen. Gewiß ist der Gedanke an ein großes, weit umfassendes Ziel ein erhebender, aber auch ein weniger umfassendes und daher näher liegendes Ziel kann zur höchsten Begeisterung entflammen, wenn die Überzeugung da ist, es muß genommen werden und es kann genommen werden. Ob der Arbeiterklasse durch eine Verkettung verschiedener Umstände im Kampfe um politische Rechte die politische Herrschaft zufällt, kann niemand voraussagen; aber das kann man sagen, daß ohne Erweiterung der gegebenen Rechte die Erweiterung ihrer politischen Macht eine sehr zweifelhafte Sache ist. In diesem Sinne habe ich meinen Brief an den Stuttgarter Parteitag geschlossen und nur dadurch, daß man den Schlußsatz übersehen, kann ich es mir erklären, daß man aus ihm herauslesen konnte, ich wollte der deutschen Sozialdemokratie auch den Weg dazu vorschreiben, ihr eine den gegenwärtigen englischen Verhältnissen entnommene Taktik predigen. Nichts konnte mir ferner liegen als das. Denn wenn ich in England eines habe lernen können, so ist es die alte hausbackene Wahrheit, daß, was für das eine Land gut ist, darum noch nicht für das andere paßt. Die Engländer sind alles Mögliche, nur keine Doktrinäre der Taktik. Und ich glaube, darin liegt das Geheime ihrer größten politischen Erfolge.“[1]

Dem Artikel Bernsteins folgt in derselben Nummer des „Vorwärts“ die Antwort Kautskys. Kautsky stellt zunächst fest, daß er in seiner Rede in Stuttgart nichts davon gesagt habe, als erwarte er von auswärtigen politischen Katastrophen eine größere Einwirkung auf die inneren Verhältnisse Deutschlands. Er habe nur die Möglichkeit solcher Katastrophen betont im Gegensatz zu einem Passus im Briefe Bernsteins an den Parteitag, worin es heißt: „Je mehr aber die politischen Einrichtungen der modernen Nationen demokratisiert werden, um so mehr verringern sich die Notwendigkeiten und Gelegenheiten großer politischer Katastrophen.“[2] Kautsky wiederholt, was er in Stuttgart gesagt habe, daß diese Auffassung für England, aber nicht für das übrige Europa und Amerika stimme. Kautsky bestreitet im Weiteren die Behauptung Bernsteins, Letzterer wolle der deutschen Sozialdemokratie nicht eine neue, nämlich die englische Taktik empfehlen. Es sei zwar richtig, wenn Bernstein sagt, mit den Umständen müsse sich die Kampfart ändern. „Aber“ – fährt Kautsky fort – „was

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[1] Ebenda.

[2] Parteitagsprotokoll Stuttgart 1898, S. 123. Eduard Bernsteins Erklärung vom 29. September 1898 wurde auf dem Parteitag von August Bebel verlesen, siehe ebenda, S. 122 ff.