Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 714

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Die Revolution in Rußland

[1]

Die Schwenkung der Liberalen

Es ist eingetroffen, was jeder urteilsfähige Beobachter der Parteiverhältnisse in Rußland voraussehen mußte und worauf wir mehrmals an dieser Stelle hingewiesen haben: Die russischen „Liberalen“ schwenken bereits offen zur Konterrevolution um! Die Biedermänner waren ja schon nach dem Erscheinen der Bulyginschen Mißgeburt,[2] des ersten „Duma“-Projektes, entschlossen, auf die Pläne des Absolutismus einzugehen und durch die Beteiligung an den Wahlen auf Grund eines Wahlgesetzes, das eine blutige kosakische Parodie des preußischen und des österreichischen Wahlunrechtes zugleich war, die Periode der offenen revolutionären Massenkämpfe äußerlich zum Abschluß zu bringen. Die einmütige grandiose Erhebung des städtischen Proletariats, der beispiellose Generalstreik, zu dem die Eisenbahner das Signal gaben,[3] hatte sowohl auf die Gaunerbande des Zarismus wie auf die liberalen Kreise eine Zeit lang erschütternd gewirkt. Der Alleinherrscher aller Polizeispitzel und Zuhälter rückte mit einem neuen Verfassungsmanifest heraus,[4] die Herren Liberalen aber schwiegen erschrocken und machten Miene, fest wie ein Felsen bei der Forderung mindestens des allgemeinen gleichen Wahlrechts zu stehen. Nun ist der Generalstreik beendet – aus dem einfachen Grunde, weil ein einzelner Generalstreik nicht unendlich dauern kann. Er hatte sein Werk getan, die „Duma“-Herrlichkeit zertrümmert, jetzt sammelt das klassenbewußte Proletariat Kräfte und ordnet die Reihen, um bald zu einem neuen, noch entschiedeneren Schlage auszuholen. Indes genügte bloß, daß die Arbeiter für einen Augenblick das Gewehr ablegen, damit das absolutistische „Schwarze Hundert“[5] sowohl wie die Liberalen sich wieder erholten und nur noch entschlossener zur Konterrevolution schwenkten. Sobald der erste Schreck vor der Machtentfaltung des Proletariats vorbei ist, kommen die Angst und der Haß der Besitzenden und Privilegierten gegen die revolutionäre Selbstherrlichkeit zu ihrem Rechte. Und dabei tritt gerade zur Ablösung der bis jetzt großartigsten Kundgebung des Industrieproletariats das furchtbare Gespenst der Bauernerhebung[6] auf die

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Am 19. August 1905 hatte die zaristische Regierung ein vom Innenminister Alexander Bulygin verfaßtes Gesetz für die Wahlen zu einer Reichsduma erlassen. Danach war die Duma nur als beratendes Organ vorgesehen, und die Wahlen sollten nach dem Ständeprinzip und nach einem festgelegten Vermögenszensus vollzogen werden. Die Industriearbeiter waren völlig und die Bauern fast gänzlich von den Wahlen ausgeschlossen.

[3] Siehe Rosa Luxemburg: Eine neue Epoche der russischen Revolution. In: GW, Bd. 6, S. 567 ff.

[4] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.

[5] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.

[6] Siehe Rosa Luxemburg: Die Revolution in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 710 ff.