Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 715

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Bühne! Das Ergebnis der raschen Wandlung ist der gegenwärtige Semstwo-Kongreß[1] in Moskau. Einer nach dem anderen, aus dem Süden und dem Norden, aus Osten und Westen kommen die Herren Semstwo-Vertreter mit eiligen zitternden Vertrauensvoten für die Überreste des Absolutismus, für die Regierung der Brandstifter, Diebe, der gedungenen Mordbuben und der Louis. Unter ihren Fittichen suchen die bedrohten, angstschlotternden Grundbesitzer Schutz gegen die Revolution, in der, nach dem alten Rezept des „Kommunistischen Manifestes“, die Eigentumsfrage immer mehr in den Vordergrund gedrängt wird. Als Mittel des Überganges zur Herrschaft der Konterrevolution unter einem „verfassungsmäßigen“ Mäntelchen erscheint den Herren Liberalen, genau wie der Regierungsbande, die Abwälzung der Verfassungsfrage mitsamt dem Wahlrecht auf die in ungleichen Kurienwahlen unter Ausschluß der revolutionären Proletariermasse und der demokratischen Intelligenz erwählten „Duma“. Die Zusagen des letzten Manifestes sollen wieder einmal eine zaristische Lüge bleiben, die „Duma“ soll Kraft eines Schwindelwahlrechts zustande kommen, und in ihr soll dann auf Grund des „Volkswillens“ das Volk übers Ohr gehauen werden.[2]

Diese ganze schöne Rechnung wird freilich durch die entschlossene Haltung des Proletariats und auch durch die nun einmal ins Rollen gebrachte Bauernbewegung zunichte gemacht werden. Allein der Semstwo-Kongreß ist ein wichtiges Symptom für die Schärfe der Klassen- und Parteikämpfe, die bald den Vorderplan der russischen Revolution einnehmen werden. Das Kampflager verschiebt sich immer mehr: Zur Fahne des Industrieproletariats schlagen Militär und Bauerntum, von ihm rücken immer offener auf die Seite der „Ordnung“ alle bürgerlichen Elemente der Opposition. Die Sache der Revolution wie des Proletariats kann dadurch nur gewinnen. Die Geschichte will uns reinen Wein einschenken, – um so besser!

Des Semstwo-Kongresses zweiter Tag[3]

Moskau, 20. November. Der Semstwo-Kongreß setzte heute die Beratung über die Beziehungen zur Regierung und zum Grafen Witte[4] fort. Die Vertreter von Tschernigow und Saratow beantragten, der Regierung ein Vertrauensvotum zu erteilen unter der Bedingung, daß sie eine Konstituierende Versammlung einberufen. Der Vertreter von Orel erklärte, er würde der Regierung ein Vertrauensvotum erteilen, wenn die Ausnahmegesetze abgeschafft würden. Der Vertreter von Stawropol wies auf die Gefahr hin, die aus der agrarischen Bewegung drohe, und führte aus, diese Bewegung werde die Zivilisation Rußlands vernichten. (!) Demgegenüber erklärte ein Vertreter von Saratow, die agrarische Bewegung biete keinen Grund zu Besorgnissen. Die Bauern würden von Agitatoren geleitet. Den Urhebern von Unruhen müsse mit Verachtung begegnet und gegen die Ausstände müsse Einspruch

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[1] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.

[2] Näheres siehe Rosa Luxemburg: Neuer Wortbruch des Zaren. In: GW, Bd. 6, S. 638.

[3] Siehe Rosa Luxemburg: Die Revolution in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 710 ff.

[4] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.