Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 175

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Über den Kampf der belgischen Sozialisten für das allgemeine Wahlrecht im Jahre 1893

[1]

wirft die Schilderung ein helles Streiflicht, welche unser Genosse Vandervelde anläßlich seines kürzlichen Aufenthalts in Italien mehreren italienischen Genossen machte.[2] Nach dem „Avanti“ erzählte Genosse Vandervelde wie folgt: „Ich bin nur ein einziges Mal, nur eine einzige Nacht lang verhaftet gewesen. Und das während der großen revolutionären Aktion, die wir entfaltet hatten, um mittels des Generalstreikes das allgemeine Wahlrecht der reaktionärsten aller belgischen Kammern zu entreißen. Cipriani (ein italienischer Revolutionär) war nach Brüssel gekommen, ich streifte mit ihm den ganzen Tag durch die Straßen der Stadt, die von Streikenden jeder Berufsart wimmelten, welche das Wahlrecht forderten. Die Partei hatte unbeschränkte Vollmacht einer Kommission von drei Mitgliedern übertragen, der Bertrand und ich angehörten. Unsere Kräfte waren völlig erschöpft, wir konnten den Strike nicht länger durchführen, wir konnten durchaus nicht auf den siegreichen Ausgang eines Aufstandes rechnen. Trotzdem waren wir soweit engagiert, daß die Ehre der Partei eine ruhmreiche Niederlage mit den Waffen in der Hand unvermeidlich gemacht haben würde. In der Nacht hatte die Kommission eine Besprechung mit den Führern der nationalen Partei, welche fragten, was wir für den Fall tun würden, daß das Parlament das Wahlrecht nicht gewähre. Wir antworteten: ‚Wir werden den Strike weiterführen. Wenn jedoch das Parlament nachgibt, so kehrt jeder Arbeiter sofort in die Werkstatt zurück.‘ – ‚Erlauben Sie, daß wir diese Antwort dem Ministerium telefonieren?‘ – ‚Tun Sie das.‘ –

Am nächsten Tage heuchelte die Kammer, welche von den stattgehabten Beziehungen nichts wußte, die große Gleichgültigkeit dem Streik gegenüber, weigerte sich, in die Debatten über den Gesetzentwurf, das allgemeine Wahlrecht betr., einzutreten und ging zur Erörterung der Frage der Eisenbahnsubventionen über. Der Tag war entscheidend. Wenn er resultatlos verlief, so war es augenscheinlich, daß die Regie

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[1] Die Notiz ist mit ♂, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.

[2] Am 12. April 1893 hatte die belgische Kammer den Antrag zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts und alle anderen Anträge für eine Wahlreform abgelehnt. Der Generalrat der belgischen Arbeiterpartei rief daraufhin am 13. April zum sofortigen Ausstand auf. Diesem Aufruf folgten etwa 250000 Arbeiter. Durch diesen Massenstreik vom 13. bis 18. April 1893, bei dem es zu Straßendemonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei kam, sah sich die Kammer gezwungen, den Forderungen zu entsprechen. Sie beschloß am 18. April das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum, wonach eine Person unter bestimmten Voraussetzungen (Steueraufkommen, Schulbildung) mehrere Stimmen abgeben konnte.