Der russische Terroristen-Prozeß
[1]Jetzt erst hat der Prozeß der russischen Terroristen Gerschuni und Genossen, der auch in Deutschland so viel Aufsehen erregt hat, seinen Abschluß gefunden. Über den Prozeß kursierten in der Presse verschiedene Gerüchte: Bald hieß es, der Führer der abgeurteilten Gruppe, Gerschuni, hätte kniefällig um Gnade gebeten, bald kam die Nachricht, der Urheber des Attentats auf den Fürsten Obolenski Katschura hätte stark belastende Aussagen über seine Genossen gemacht, dann wurde die Nachricht wieder dementiert und die bereits vollzogene Hinrichtung dreier Angeklagter gemeldet. Jetzt stellt es sich heraus, daß die allerdings zum Tode Verurteilten, wie das „Berliner Tageblatt“ zu melden weiß, schließlich zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe „begnadigt“ wurden. Bevor nun die russische Regierung ihre Lügen zu einem offiziellen Bericht zusammenflickt, sind wir in der Lage, auf Grund des von dem Struveschen „Oswoboshdenie“ [Befreiung] veröffentlichten ungekürzten Originaltextes der gerichtlichen Anklageschrift über diesen Prozeß näheren Aufschluß zu geben.
Die Gerichtsverhandlung vor dem Petersburger Bezirks-Kriegsgericht hat am 2. März d. J. und in folgenden Tagen unter dem Vorsitz des Herrn von Osten-Sacken stattgefunden. Angeklagt waren fünf Personen: der Apotheker Hirsch Gerschuni (der in der deutschen Presse mißverständlich als Arzt und Stabskapitän figurierte) aus Litauen, Aron Weizenfeld aus Shitomir (Wolhynien), Michael Melnikow, ferner Leutnant der Artillerie Eugen Grigorjew und Frl. Ludmilla Remjannikowa. Die Anklage legt den Genannten die Teilnahme an drei terroristischen Attentaten zur Last, die im Jahre 1902 und 1903 ausgeführt wurden. Am 15. April 1902 ist bekanntlich der Minister des Innern Sipjagin von dem Studenten Balmaschkow getötet worden, im August hat der Arbeiter Katschura in Charkow auf den Gouverneur Obolenski geschossen, endlich im Mai 1903 ist der Gouverneur von Ufa Bogdanowitsch von zwei unbekannten Personen im städtischen Park erschossen worden. Außerdem werden die Angeklagten beschuldigt, zum Attentat auf Pobedonoszew im April und Mai 1902 Vorbereitungen getroffen zu haben.
Es muß vorausgeschickt werden, daß die Anklageschrift einen äußerst peinlichen Eindruck macht. Sie stützt sich vor allem auf den Verrat zweier Mitglieder der terroristischen Gruppe: des Leutnants Grigorjew und des Arbeiters Katschura. Ersterer, ver
[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Aus dem Brief Rosa Luxemburgs vom 27. April 1904 an Kurt Eisner geht hervor, daß sie die Verfasserin ist, siehe GB, Bd. 2, S. 56.