Murawjew in Paris
[1]Die europäische Presse hat verschiedene Vermutungen in bezug auf die Bedeutung des Besuches Murawjews in Paris gemacht. Daß er mit der Frage des englisch-französischen Streites über Faschoda im Zusammenhang stand, war von vornherein klar.[2] Ein Teil der französischen Presse hat aus dem Besuche Murawjews die Hoffnung geschöpft, Rußland werde Frankreich im vorliegenden Falle gegen England beistehen. Tatsächlich haben die Verhandlungen des russischen Ministers mit der französischen Regierung einen für Frankreich weniger erfreulichen Charakter gehabt. Die „Nowoje Wremja“ [Neue Zeit] schreibt darüber in ihrer letzten Nummer:
„Das Petersburger Kabinett kann nicht in dem englisch-französischen Streite sein gewichtiges Wort sagen, solange die auswärtige Politik Frankreichs von einem Politiker geleitet wird, der keinen Anstand nehme, jede Solidarität mit der Expedition Marchands abzulehnen. – Wir glauben nicht, daß es zu den ‚Pflichten‘ gehört, die Rußland durch die Allianz mit Frankreich auferlegt werden, die Schwierigkeiten eines solchen Kabinetts, wie das Brissonsche wegzuräumen.“ – Außerdem seien die Tage des Kabinetts Brisson gezählt, es würde gleich nach dem Zusammentritt der Kammer gestürzt werden. „Sind aber ernste Verhandlungen mit einer solchen in Agonie liegenden Regierung denkbar? – Das Ministerium Brisson … steht im offenen Widerspruch mit jenen beiden Faktoren des politischen Lebens der Republik, die hauptsächlich die Grundlage der russisch-französischen Allianz bildeten: der Armee und dem Volke. An dieser Sachlage unbeteiligt ist nur der Präsident der Republik, Felix Faure, der aber leider an Händen und Füßen gebunden ist.“ „Ungeachtet dieser Gebundenheit hat Herr Faure die Möglichkeit gehabt, sich aus den sichersten Quellen über die unerschütterliche Freundschaft Rußlands Frankreich gegenüber zu informieren, denn binnen kurzer Zeit hatte er Gelegenheit, mit drei einflußreichen Vertretern der russischen Regierung, mit dem Finanzminister, dem Kriegsminister und dem Minister des Auswärtigen zu verhandeln.“
[1] Der Artikel erschien anonym, stammt aber sehr wahrscheinlich von Rosa Luxemburg. Seit 25. September 1898 war sie Redakteurin der Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden) und konzentrierte sich auf die beiden ersten Seiten des Blattes, siehe GB, Bd. 1, S. 204 ff. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Artikel unter Nr. 100 ausgewiesen.
[2] Im September 1898 war es während eines Konfliktes zwischen Frankreich und Großbritannien um den Besitz des Sudan zu einem Zusammenstoß bei Faschoda gekommen, der beide Länder an den Rand eines Krieges führte. Der Konflikt wurde im März 1899 durch den formellen Verzicht Frankreichs im Austausch gegen einige andere afrikanische Gebiete beigelegt.