Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 240

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Der Sinn des Murawjewschen Besuches ist danach klar. Rußland hat seine Mitwirkung in dem englisch-französischen Streit zu einer Kabinettsfrage gemacht. Der Sturz des Ministeriums Brisson,[1] die Unterdrückung der Revision des Dreyfus-Prozesses,[2] die unumschränkte Herrschaft des Generalstabes, das sind die Bedingungen, an die Rußland seine Unterstützung gebunden hat… Noch hat Frankreich von der Allianz mit dem Zarenreiche[3] nicht den geringsten positiven Vorteil gehabt, noch hat es bis jetzt nichts als moralische Erniedrigungen und finanzielle Opfer bei diesem widernatürlichen Bunde davongetragen. Nun wird aber die Allianz zu einem Faktor, der bei der jetzigen sozialen Krise im Innern Frankreichs eine gewichtige und höchst fatale Rolle spielen kann. Der Streit mit England, in den sich die Republik verwickelt hat, die Schwierigkeiten der auswärtigen Politik werden angesichts der bezeichneten Stellungnahme Rußlands bei dem Zusammentritt der Kammern für das radikale Kabinett von verhängnisvoller Bedeutung sein, denn die militärisch-katholische Reaktion wird in dem Gespenst eines Krieges mit England eventuell ein neues willkommenes Mittel finden, um die öffentliche Meinung Frankreichs einzuschüchtern.

Daß übrigens die Haltung des Kabinetts Brisson Rußland nur zum Vorwand dient, daß es selbst nicht im mindesten daran denkt, Frankreich beizustehen, sondern bloß einen eventuellen Krieg mit England für die eigenen Geschäfte in Asien ausnützen würde, dürfte für jedermann klar sein. Frankreich ist und bleibt bei der Allianz der Düpierte.

Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),

Nr. 246 vom 22. Oktober 1898.

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[1] Die im Juni 1898 gebildete Regierung unter Eugène Henri Brisson war gezwungen, am 25. Oktober 1898 zurückzutreten, nachdem ein Vertrauensvotum für Brisson abgelehnt worden war. Brisson hatte den Vorwurf der Monarchisten und Militaristen, die Armee im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre nicht genügend vor Angriffen geschützt zu haben, zurückgewiesen. Siehe auch Rosa Luxemburg: Die Ministerkrise in Frankreich. In: GW, Bd. 6, S. 244.

[2] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.

[3] Seit 1887 hatte sich aufgrund der französischen Anleihen, der russischen Aufträge für Frankreichs Industrie und der sich zuspitzenden internationalen Situation eine weitgehende Annäherung beider Länder vollzogen, die durch einen Konsultativpakt 1891 und eine Militärkonvention 1893 zu einem festen Bündnis wurde.