Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 449

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Zur Schlichtung der polnischen Zwistigkeiten

[1]

I Artikel

Die Polendebatte hat auf dem diesjährigen Parteitag[2] ein viel lebhafteres Interesse wachgerufen als in früheren Jahren, was zweifellos dem lebhaften Wunsche der weitesten Parteikreise entsprang, den unerquicklichen Zwist mit dem polnischen Sonderbund endlich einmal loszuwerden.[3]

Obwohl der Parteivorstand noch dicht vor dem Parteitag dieselbe Überzeugung wie die Mehrheit unserer in Posen und Oberschlesien tätigen Genossen hatte, daß nämlich eine Verständigung mit den nationalistischen Sonderbündlern leider aussichtslos wäre, so wurde doch der in zwölfter Stunde vom Parteivorstand gefaßte Entschluß, noch einen letzten Verständigungsversuch zu wagen, allseitig freudig angenommen. Es war nie das Bestreben unserer polnischen Genossen, sowie der Genossen Winter und Gogowski, den Frieden mit dem Häuflein ihrer feindlichen Brüder abzulehnen. Im Gegenteil waren sie stets bereit, alle ihnen angetane Unbill zu vergeben, um nur im Interesse der Bewegung die Partei von kompromittierenden Erscheinungen in der Art der Doppelkandidaturen[4] zu bewahren.

Allein, kaum hatten die deutschen und polnischen Genossen in München ihre Bereitwilligkeit bekundet, wieder einmal eine Verständigung mit dem polnischen Sonderbund zu versuchen, als von einer ihm nahe stehenden Seite, im Krakauer „Naprzód“ [Vorwärts][5] Daszyńskis, Ausführungen erscheinen, die leider sehr geeignet sind, alle Hoffnungen auf eine Verständigung zu vereiteln. Unter einer Flut persönlicher Angriffe auf die tätigsten unserer polnischen Genossen, auf unser polnisches mit schweren Opfern herausgegebenes Parteiorgan in Posen und auf die gesamten

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Rosa Luxemburg Autorschaft ergibt sich aus Briefen Rosa Luxemburgs an Franz Mehring vom 27. September 1902 und an August Bebel vom 11. Oktober 1902 (siehe GB, Bd. 1, S. 646 f. u. 648 f.) und außerdem aus dem bis zum Jahre 2011 unbekannten Brief Rosa Luxemburgs an die Preßkommission Leipzig vom 27. September 1902, der nach dem Artikel unter II abgedruckt wird.

[2] Gemeint ist der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der vom 14. bis 20. September 1902 in München stattgefunden hatte.

[3] Am 10. September 1893 hatte sich die 1890 gegründete Vereinigung polnischer Sozialisten unter Führung von Franciszek Morawski und Franciszek Merkowski mit anderen polnischen sozialistischen Gruppen zur Polska Partia Socjalistyczna (PPS – Polnische Sozialistische Partei) des von Preußen annektierten Teiles von Polen konstituiert. Sie blieb bis 1903 autonomer Bestandteil der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

[4] Die PPS hatte in Oberschlesien für die Reichstagswahl 1903 eigene Kandidaten nominiert, ohne sich mit dem Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der schon Kandidaten benannt hatte, zu verständigen.

[5] „Naprzód“ (Vorwärts) war die Zeitung der PPSD, die seit 1892 in Krakau erschien, siehe auch S. 83, Fußnote 16. „Naprzód“ (Vorwärts) war die Zeitung der PPSD, die seit 1892 in Krakau erschien, siehe auch S. 83, Fußnote 16.