Der Untergang des Nationalliberalismus
[1]„Qui mange du pape, en meurt“[2]* hieß es zu den Zeiten des berüchtigten Papstes Alexander VI. Borgia, weil er die Leute, die er beiseiteschaffen wollte, zu üppigen Gastmählern einlud und ihnen vergiftete Speisen und Getränke vorsetzte. Mit einer kleinen Variante in Form und Inhalt könnte man heute mit Fug sagen: „Qui mange du socialisme, en meurt.“ Allerdings in dem Sinn, daß nicht der Sozialismus selbst das „Gift“ braut, an dem die alten Parteien sterben, sondern daß diese in der Behandlung des Sozialismus die Fehler machen, an denen sie zugrunde gehen werden. Bismarck braute das Sozialistengesetz[3] zurecht, um später darüber zu straucheln und zu Falle zu kommen, und die Scharfmacher haben nicht geruht und nicht gerastet, bis die Zuchthausvorlage[4] fertig war, die bereits ihre zersetzende Wirkung auf die Parteien ausübt.
Beim Zentrum allerdings muß man die ganze Wirkung erst abwarten, weil die Haltung dieser Fraktion noch nicht genau zu erkennen ist. Aber wenn das Zentrum der Zuchtshausvorlage in irgendeiner „verbesserten“ Form zustimmen sollte, so werden das die „katholischen“ Arbeiter schwerlich ruhig hinnehmen, und die Haltung des Zentrums in der bayerischen Abgeordnetenkammer ließ deutlich erkennen, daß Herr Lieber mit seinen „staatsmännischen“ Praktiken diesmal zum Allermindesten einen schweren Stand haben wird.
In eine vollständige Krisis aber ist die Nationalliberale Partei geraten. Die Zersetzung ist dort so weit vorgeschritten, daß die Verhandlungen über die Zuchtshausvorlage abermals eine Spaltung dieser schon so oft gespaltenen Partei herbeiführen werden, wenn es nicht irgendeinem „Staatsmann“ gelingt, das in allen Fugen krachende Gebäude der Partei noch einmal zu stützen und die Risse zu verkleistern. Aber wer soll dieser „Staatsmann“ sein? Von den „Jungen“ hat keiner den erforderlichen Einfluß, und die „Alten“ haben sich müde oder grollend zurückgezogen. Bennigsen sitzt auf dem „Altenteil“ in Hannover, und Miquel ist zu den Agrariern übergegangen.
[1] Der Artikel erschien anonym. Es dürfte sich um den am Vortage nach Leipzig gesandten Artikel handeln, von dem Rosa Luxemburg Leo Jogiches am 28. Oktober 1899 berichtete, siehe GB, Bd. 1, S. 389. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1971 (Feliks Tych: Uzupelnienia do Bibliographii Prac [Pierwodruków] Rózy Luksemburg. In: Z pola walki 1971, Nr. 1), ist er unter Nr. 7 verzeichnet.
[2] * Wer ißt, was vom Papst kommt, stirbt daran.
[3] Das mit 221 gegen 149 Stimmen im Deutschen Reichstag angenommene „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat am 21. Oktober 1878 mit seiner Verkündigung in Kraft.
[4] Gemeint ist der Versuch der Regierung, mit einem Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ vom 20. Juni 1899 gegen die zunehmende Streikbewegung anzukommen und de facto das Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter zu beseitigen. Die „Zuchthausvorlage“ wurde gegen die Stimmen der Konservativen am 20. November abgelehnt.