Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 283

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Die Nationalliberale Partei ist infolge ihrer Schwächen und Inkonsequenzen stets von Krisen und Spaltungen heimgesucht worden. Nachdem sie dem „national gesinnten“ Ministerium Bismarck die Indemnität für seine Verfassungswidrigkeiten verschafft, wuchs sie nach der Gründung des Reichs unter der Gönnerschaft des „Herkules des Jahrhunderts“ zur mächtigsten Partei des Reiches an, alles verletzend durch ihre Brutalität und Taktlosigkeit und ein Volksrecht nach dem anderen preisgebend durch ihren Knechtssinn und ihre Wankelmütigkeit.

Als Bismarck die „liberale“ Maske abwarf und Reichsgewalt und Reichsgesetzgebung zum Vorteil seiner Kaste auszunutzen begann, da begannen auch für die Nationalliberale Partei die Enttäuschungen und Spaltungen. Als Bismarck mit seiner neuen Zoll- und Wirtschaftspolitik kam und die Partei nicht gleich über den Stock springen wollte, splitterte sich die Gruppe Schauß-Völk („scheußliche Völkerschaft“) ab. Dies geschah 1879, und schon 1880 erfolgte die große Sezession; die freihändlerischen Nationaliberalen Forckenbeck, Bamberger, Rickert, Barth usw. traten aus der Partei aus. Eugen Richter beging den Fehler, diese Freihändler zu seinen Freisinnigen heranzuziehen, wodurch er seine Fraktion auf 110 Mann („goldene Hundertzehn“), aber auch den Keim der Zersetzung in den Freisinn brachte. Bei den Wahlen ließ nun Bismarck seinen Apparat gegen die Nationalliberalen spielen, wodurch ihre Fraktion im Reichstage, wo sie 1874 noch 155 Mann stark war, 1884 auf 45 Mitglieder, und im preußischen Abgeordnetenhause von 182 im Jahre 1878 auf 65 Mitglieder anfangs der achtziger Jahre herab ging. Trotz aller Fußtritte, die die Partei von Bismarck erfuhr, suchte sie ihm doch immer wieder ihre Dienste aufzudrängen.

Durch den Kriegsschwindel und die Angstwahl von 1887[1] stieg die Nationalliberale Partei wieder auf 101 Mann im Reichstag, aber nachdem sie dort das bewilligt und das Brot verteuert hatte (Kartellpolitik), sank sie 1890 auf 42 Mandate, während sie zur Zeit 44 Mitglieder und vier Hospitanten zählt. Schon in der letzten Zeit des Sozialistengesetzes gab es in der Partei heftige Differenzen zwischen Bennigsen und Miquel, wobei letzterer wesentlich zum Sturze Bismarcks beitrug, indem er gegen Bennigsens Einspruch seine Fraktion bewog, das Sozialistengesetz abzuschwächen, so daß Bismarck erklärte, dasselbe in seiner „Verstümmelung“ nicht annehmen zu können. Miquel hielt sich damals offenbar für den prädestinierten Nachfolger Bismarcks.

Nachdem Bismarck aus der Regierung geschieden war, wurde erst recht klar, wie abhängig die Nationalliberale Partei von demselben gewesen; ihre politische Bedeutung war völlig geschwunden. Manchmal klagten ihre alten Führer in elegischen Tönen um die „große“ Vergangenheit, und die nationalliberale Eitelkeit verstieg sich dazu, die Sitzungen des Parlaments, in denen die Nationalliberalen ihre knechtselige

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[1] Die Reichstagswahlen am 21. Februar 1887 fanden in einer vom Reichskanzler Bismarck gegen die revanchistischen Bestrebungen des französischen Kriegsministers Georges Boulanger geschürten antifranzösischen Pressekampagne statt, durch die eine Atmosphäre des Chauvinismus und des Terrors herrschte.