Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 284

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Unterwürfigkeit unter die herrschende Gewalt dargetan, als „große Tage“ zu bezeichnen. Alles im deutschen Volke, was von nationalliberalem Knechtssinn nicht angefressen war, atmete auf, als der politische Terrorismus der Nationalliberalen durch ihre Niederlagen gebrochen war.

Man hat die Nationalliberalen vielfach als die Vertreter des industriellen Großkapitalismus bezeichnet und das nicht unzutreffend. Sie haben den Stumm[1] und Genossen viel Handlangerdienste bei deren reaktionären und arbeiterfeindlichen Machenschaften geleistet. Unter solchen Umständen war es einigermaßen verwunderlich, daß sich unter den Nationalliberalen dennoch Männer fanden, die den Mut hatten, den Scharfmachern die Gefolgschaft aufzusagen und die Zuchtshausvorlage zu verwerfen.

Die Erklärung liegt wohl hauptsächlich darin, daß diese Männer die wenigen Arbeiter, die noch in ihrem Gefolge sind, sich erhalten wollen, denn mit der Zuchthausvorlage treiben sie dieselben zur Sozialdemokratie. So viel Einsicht kann man den „Bassermännern“ wohl noch zutrauen.

Merkwürdig ist unter ihnen die Erscheinung des Freiherrn von Heyl, des bekannten Wormser Großindustriellen, der viele Sünden gutzumachen hat.[2]* Die „Bassermänner“ sind von der Presse desjenigen Flügels ihrer Partei, der den Kurs der Scharfmacher innehält, wütend angefallen worden, namentlich seitdem Herr Bassermann die Anhänger der Zuchthausvorlage der Heuchelei bezichtigt hat. Die Scharfmacher-Presse hat alles getan, um die Kluft zwischen dem rechten und linken Flügel der Nationalliberalen zu erweitern. Die Herren vom rechten Flügel, Möller, Büsing und Genossen, die sich von Stumm und seinen Freunden nur durch den Namen unterscheiden, wollen die Zuchthausvorlage „verbessern“, um sie dem Zentrum annehmbar zu machen.

So wird die Nationalliberale Partei nochmals zerfallen und wird damit nach und nach vom politischen Schauplatz verschwinden. Der rechte Flügel tut gut, in den Konservativen aufzugehen; die Bassermann und Genossen, die mit Rücksicht auf die nicht-sozialistischen Arbeiter das Koalitionsrecht nicht antasten wollen, würden ihren politischen Kredit nur heben, wenn sie die allgemach der Lächerlichkeit verfallene Bezeichnung „nationalliberal“ von sich weisen wollten. Doch mögen das die Herren machen, wie sie wollen. Indem die Nationalliberale Partei mehr und mehr sich dem Zeitpunkte nähert, der ihren gänzlichen Untergang bringen wird, verschafft sie ihren politischen Gegnern die Genugtuung, daß die hundertfältigen Sünden dieser Partei endlich ihre Strafe finden, wenn auch eine verhältnismäßig gelinde.

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 251 vom 28. Oktober 1899.

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[1] Carl Freiherr von Stumm-Halberg, Großindustrieller und Freund Wilhelms II., Mitbegründer und Führer der Deutschen Reichspartei, sowie Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär im Reichsamt des Innern und Vizekanzler von 1897 bis 1907, verfochten als schärfste Gegner der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie die Anwendung brutaler Gewalt bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse. Arthur Graf von Posadowsky-Wehner hatte am 11. Dezember 1897 an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten ein geheimes Rundschreiben gesandt, in dem er Vorschläge für gesetzliche Maßnahmen gegen das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit forderte. Der deutschen Sozialdemokratie war es gelungen, das Geheimdokument in die Hand zu bekommen und am 15. Januar 1898 im Vorwärts zu veröffentlichen.

[2] * Man sagte ihm nach, er habe früher in den sozialistischen Versammlungen zu Worms die dort gehaltenen Reden stenographisch aufnehmen lassen, zu welchem Zweck, mag sich jedermann selbst denken.