Des Erlösers Geburt
[1]Mehr als neunzehn Jahrhunderte sind verflossen, seit die gläubige Menschheit die Geburt des Zimmermannssohnes aus Nazareth feiert, der dem Menschengeschlechte als Erlöser verkündet ward. In einer furchtbaren Zeit der Zersetzung des alten Römerreiches, da Millionen in ausweglosem Elend, in Sklaverei und Erniedrigung versanken, in dieser düsteren sozialen Nacht ging die Morgenröte der christlichen Erlösung auf, von den Elenden und Enterbten mit frommem Glauben und jauchzender Hoffnung begrüßt. Und heute wieder, wie seit bald zweitausend Jahren werden die Glocken von unzähligen Kirchtürmen in unzähligen Städten und Dörfern mit eherner Zunge die Wiederkehr jenes freudigen Tages preisen, in hohen Palästen und niedrigen Hütten werden Tannenbäume im Kerzenlicht und Flitterschmuck erglänzen zur freudigen Feier der Geburt des Erlösers.
Doch wo ist die Erlösung geblieben? Darben nicht heute Millionen in täglicher Pein, wie vor Jahrtausenden? Und werden sie nicht wie damals von den Reichen mit Füßen getreten, die doch schwerer in das Himmelreich kommen sollten, denn ein Kamel das Nadelöhr passieren?
Es ist nichts als eine pfäffische Lüge, wenn dem Volke eingeredet wird, das Christentum habe eine seelische und nicht eine leibliche Erlösung verheißen und vollbracht, das Reich Jesus sei nicht von dieser Welt. Nichts als ein unbestimmter Wunsch auf die Glückseligkeiten des Jenseits, sondern als ein Evangelium der Erlösung von
[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet, gehört aber sehr wahrscheinlich zu den Leitartikeln der Chefredakteurin des „Vorwärts“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Der „Vorwärts“ gehe jetzt vor, schrieb Rosa Luxemburg in den letzten erhalten gebliebenen Briefen des Jahres 1905, siehe GB, Bd. 2, S. 226 und 238. Für ihre Autorschaft sprechen außerdem Vergleiche mit ihrer 1905 in polnischer Sprache und unter dem Pseudonym Józef Chmura verfaßten Broschüre „Kosciol a Socjalizm“. Sie greift in ihrem Artikel auf dieselben Zitate von den ersten Aposteln des Christentums, dem heiligen Basilius und Gregor dem Großen, zurück wie in ihrer Broschüre. Siehe Rosa Luxemburg: Kirche und Sozialismus. Mit einer Einführung von Dorothee Sölle und Klaus Schmidt, Frankfurt am Main, o. J, S. 28 f. und S. 31.; dies.: Das Volk als leidender Gottesknecht: Rosa Luxemburgs Schrift „Kirche und Sozialismus“. In: „Mensch, wo bist du, wenn Leben mehr als Kapital sein soll?“ Texte aus linker Perspektive im Rahmen des 32. Deutschen Evangelischen Kirchentages. RLS-Papers, zusammengestellt von Ilsegret Fink, Cornelia Hildebrandt, Berlin 2009, S. 21 ff.; rls standpunkte 4/2005, 12 S. – Die Übersetzung erfolgte nach der von Julian Marchlewski besorgten Ausgabe, Moskau 1920, und befindet sich in: Internationalismus und Klassenkampf. Die polnischen Schriften. Hrsg. und eingel. von Jürgen Hentze, Neuwied und Berlin 1971, S. 44 ff. – Siehe außerdem Rosa Luxemburg: Der neue Glaube. In: GW, Bd. 6, S. 399 ff. und dies.: Proletariat und Religion. In: ebenda, S. 407 ff.