Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 844

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ersten Zeichen, daß die Sklaven „aufmucken“ wollten, setzte das baltische deutsche Junkertum sofort alle seine Einflüsse in Petersburg in Bewegung, um „verstärkten Schutz“ über das Volk in Livland und Kurland zu erwirken. Alle diese Herren „von und zu“ malten der zaristischen Kamarilla die Lage in den Ostseeprovinzen als so bedrohlich vor, daß sie natürlich bei dem Knutenregiment willige Ohren fanden und gleich im Anfang des Jahres den „Segen“ des Kriegszustandes über das Land brachten. Wie die Junker mit Hilfe der Nagaika [Knüttel] ihre „heiligen Rechte“ zu verfechten anfingen, dafür nur ein Beispiel für viele. Im Frühjahr dieses Jahres, ich entsinne mich in diesem Augenblick des Datums nicht näher, unternahm einer von den Gewaltigen dieser deutschen Junkersippe, Fürst Lieven, die Bauern in der ganzen Gegend zu „beruhigen“. Er fiel plötzlich mit einer Abteilung Kosaken in das Dorf Szagarren ein, das zwar schon im Gouvernement Kowno, aber dicht an der Grenze Rußlands liegt, und ließ alle Bauern grausam auspeitschen. Bei dieser Exekution wurde unter anderen auch ein Buchhalter Namens Janson auf Geheiß des Herrenmenschen durchgepeitscht. Da nun Szagarren zum Gutsbezirk des russischen Fürsten Naryschkin gehört und der gewalttätige Junker zufällig einem anderen Junker ins Gehege kam, so wurde der kosakische Einfall auf Naryschkins Klage vor den Kadi gewiesen und Fürst Lieven bekam – sieben Tage Stubenarrest! So wirtschaftete der deutsche Adel, gestützt auf den Kriegszustand und die Hilfe der Kosaken. Man kann sich leicht vorstellen, welcher Haß und Grimm sich im Laufe dieser Monate im Herzen des lettischen Landvolkes aufgespeichert hat! Der jetzige Aufruhr ist nur eine plötzliche Schuldentilgung der Bauern, deren Gewaltsamkeit genau der langjährigen gewaltsamen Ausbeutung und Unterdrückung seitens des deutschen Junkertums entspricht. Die brutalen „Herren“ ernten nur den Hass, den sie bei ihren Sklaven gesät haben. Fürst Lieven, der Held von Szagarren, ist ja als eines der ersten Opfer getötet worden. Aber noch in anderer Beziehung ernten die Junker die Frucht der eigenen Saat. Der lange Kriegszustand, den sie selbst provoziert hatten, das Hausen der Kosaken in den Dörfern – das alles hat die Landarbeiter politisch aufgerüttelt und revolutioniert. In dieser Schule hat der lettische Bauer in Kürze begreifen gelernt, was die Sozialdemokratie aus den Städten nur mit großer Mühe ihm früher klarzumachen vermochte. Der Bauer versteht jetzt, daß er neben dem Junkertum den Absolutismus hassen muß und daß sein nächster Verbündeter – der städtische Arbeiter ist. Die Greueltaten des ländlichen Aufruhrs sind das eigene Werk des deutschen Junkertums, die politische Aufklärung, die sich aus dem Aufruhr herausdestilliert und jetzt schon stark zum Ausdruck kommt, ist das Werk – der lettischen Sozialdemokratie. Massenhaft strömen uns jetzt Landarbeiter zu unter dem allgemeinen Banner der demokratischen Republik im ganzen Reich.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 300 vom 23. Dezember 1905.

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