Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 843

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Großgrundbesitz. Diesem gegenüber steht eine große Masse des Landproletariats, das durch die Vermittlung des Pächtersystems von dem Latifundienbesitz unmenschlich ausgebeutet wird. Die Lage des ostpreußischen „Gesindes“ erscheint manchmal noch als beneidenswert im Vergleich mit dem Helotendasein der Landarbeiter in Livland und Kurland. Was nun aber dieses rein soziale Klassenverhältnis eigentümlich färbt, ist der Umstand, daß der ganze grundbesitzende Adel ausnahmslos deutsche Junker sind, während das Landproletariat lettisch ist. Die Religion spielt hier keine Rolle. Lutheranisch sind sowohl Letten wie Deutsche. Auch der Unterschied der Nationalität würde natürlich keine Rolle spielen, denn das lettische Bauernvolk ist sehr gutmütig und kümmert sich um keines Menschen Nationalität. Allein der Deutsche hat sich als Junker, als brutaler Latifundienbesitzer verhaßt gemacht. Denn bei den Deutschen hat der Nationalitätenhaß freilich eine Rolle gespielt. Den armen lettischen Bauern haben sie nicht bloß mit der üblichen Rücksichtslosigkeit des Junkertums, sondern auch mit dem ganzen Hochmut der „herrschenden Nationalität“ behandelt. Tatsächlich war für den lettischen Bauer jahrzehntelang der Herrscher nicht etwa der russische Kosak, sondern der deutsche Rittergutsbesitzer, der das Landvolk direkt wie verächtliche, rechtlose Sklaven behandelte. Hinzu kommt noch, daß auch die evangelische Geistlichkeit hier zum Großgrundbesitz gehört. Das sind nicht etwa die armen lutheranischen Landpastoren, wie in anderen nordischen Ländern, nein, die hiesigen Herren Geistlichen sitzen zusammen mit dem Junkertum, mit dem sie auch versippt und verschwägert sind, am reich besetzten Tische der Latifundienwirtschaft und helfen dem Adel, die Geißel doppelt und dreifach über dem Rücken des lettischen Landvolkes zu schwingen. Bis in die jüngste Zeit war diese herrschende Junkerkaste sowie das deutsche Bürgertum in den Städten, das sich nicht weniger fleißig von der Ausbeutung der lettischen Industriearbeiter nährte, mit dem Knutenregiment des russischen Absolutismus wohl zufrieden. Freilich murrten die Herren stark gegen die Russifizierung der Schule und des öffentlichen Lebens. Durch ihr brutales Klassenregiment hatten sie es jedoch selbst soweit gebracht, daß für das ärmere lettische Volk die Russifizierung der Schule eigentlich erst den Zutritt zur mittleren und höheren Schule ermöglicht hat! Das deutsche Junkertum und Bürgertum ließen den Sohn des lettischen Volkes, solange sie das Regiment in dem Unterrichtswesen allein führten, nicht durch die Pforten der höheren Schule durchschlüpfen! Im Ganzen jedoch hatten und haben die baltischen Adelsfamilien bei dem zaristischen Hofe, in Petersburg, so starke Verbindungen und Einflüsse, daß der Bauer ihnen vollständig ausgeliefert war. In den letzten Jahren nahm die sozialdemokratische Bewegung zunächst in den Städten sehr stark zu. Der 22. Januar dieses Jahres[1] war ein Signal einer Reihe von wunderbar durchgeführten Generalstreiks in Riga, Reval, Mitau usw. Allmählich begann die Sozialdemokratie ihre Einflüsse auch auf das flache Land auszubreiten. Und da, beim

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[1] Gemeint ist der Beginn der russischen Revolution, als am (9.) 22. Januar 1905 in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift zogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven empfangen, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus.